Über den soziologischen Gehalt der deutschen Kriminalstatistik

Die kriminelle Entfaltung

Auch wenn es die Medien gern anders darstellen: Die deutsche Kriminalstatistik bietet keinen Anlass zur Furcht vor dem Verbrechen. Eher gibt sie Aufschluss über die soziale Lage.

Die Berufsaussichten für Rechtsanwälte werden wieder besser – zumindest wenn man denjenigen Publikationen glauben darf, die in der vergangenen Woche feststellten: »Die Kriminalität nimmt zu!« Erstmals seit sieben Jahren sei die Zahl der registrierten Straftaten in Deutschland wieder gestiegen, schrieb etwa der Spiegel. Der vermeintliche Anstieg der Kriminalität lag im Jahr 2011 zwar nur bei einem Prozent. Dennoch machte er in der vergangenen Woche in fast allen Medien große Schlagzeilen, nachdem Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am Mittwoch die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) 2011 der Presse vorgestellt hatte. Doch die tatsächlichen Zahlen, die der Minister und das BKA vorlegten, zeigen, dass die Lage keineswegs dramatisch ist.

Ohnehin weist das Bundesinnenministerium immer wieder explizit auf den vorläufigen Charakter der Erhebung hin und mahnt zur Vorsicht im Umgang mit den Daten: »Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr nur die der Polizei bekannt gewordenen und durch sie endbearbeiteten Straftaten, einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche und der vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte, abgebildet werden und eine statistische Erfassung erst bei Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfolgt.« Ferner macht es darauf aufmerksam, dass nur das sogenannte Hellfeld erfasst werden kann und die Erfassung tatsächlicher oder angeblicher Straf­taten bei der Polizei davon abhängig ist, ob Betroffene Anzeige erstatten oder nicht, was je nach Kriminalitätsbereich sehr stark variiert.
Das heißt: Die PKS gibt keinerlei Auskunft über tatsächliche und juristisch nachgewiesene Straftaten, die dann gerichtlich geahndet werden. Stattdessen erfasst sie nur die von der Polizei eingeleiteten und dann an die Staatsanwaltschaft weitergegebenen Ermittlungsverfahren. Ob sich die Vorwürfe der Anzeigensteller, bei privaten Antragsdelikten wie kleineren Diebstählen, beziehungsweise der Polizei, bei Offizialdelikten wie Totschlag, dann überhaupt als »gerichtsfest« erweisen, verrät die PKS nicht. Sie gibt also allenfalls eine sehr allgemeine Entwicklung der Straftaten wieder, wie auch das Ministerium betont. Die Journalisten, die vergangene Woche die Pressekonferenz des Bundesinnenministers besuchten, stellten aber ohnehin hauptsächlich nur zu einer Sorte von Delikten Fragen: zu Ausschreitungen am Rande von Fußballspielen. Tags zuvor war schließlich das Relegationsspiel zwischen Fortuna Düsseldorf und Herta BSC kurios zu Ende gegangen (siehe Dschungel-Seiten 16/17).

Wer sich fragt, wie sich die Kriminalität 2011 tatsächlich entwickelt hat, kann den veröffentlichten Zahlen Folgendes entnehmen: Der Anstieg der polizeilich registrierten Straftaten um ein Prozent ergibt sich aus der Zunahme von Delikten in sechs Kriminalitätsfeldern, die nichts mit Schwerkriminalität oder Kapitalverbrechen zu tun haben. Wirklich dramatisch zugenommen hat nur die sogenannte Internetkriminalität, also etwa das »Phishing« von Passwörtern, und zwar um 84 Prozent, bei insgesamt 4 644 Fällen. Die Computerkriminalität stieg insgesamt lediglich um 0,7 Prozent, Rauschgiftdelikte nahmen um 2,4 Prozent zu, der Diebstahl aus – nicht von – Kraftfahrzeugen stieg um 2,2 Prozent an. Um ­jeweils fast zehn Prozent erhöhten sich die Anzahl der angezeigten Wohnungseinbrüche und die Fahrraddiebstähle. Die Zahl der Straftaten »gegen die sexuelle Selbstbestimmung« erhöhte sich um 0,4 Prozent. Dennoch konzentrierten fast alle großen Medien ihre Berichterstattung darauf, da die Verbreitung von Kinderpornographie angeblich stark zugenommen habe.
In allen anderen Kriminalitätsfeldern sanken die Zahlen, anders als die Sensationsberichterstattung zu einzelnen schweren Taten vermuten lässt, teils sogar stark. Um jeweils etwa zwei Prozent verminderte sich sowohl die Zahl der Autodiebstähle, Raubtaten, Körperverletzungen, Gewalttaten insgesamt als auch der »Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt«. Der oft erwähnte Kreditkartendiebstahl und -betrug ging gar um 15 Prozent zurück.
Innenminister Friedrich konnte sogar weitere Erfolgsmeldungen vortragen, die der öffentlichen Hysterie bei diesen Themen entgegenstehen: Nicht nur die Zahl der Tatverdächtigen reduzierte sich, auch die Zahl vermeintlich krimineller Kinder, junger Erwachsener und Jugend­licher nahm stark ab, letztere gar um über sieben Prozent. Bemerkenswert ist dabei, ähnlich wie in den Jahren zuvor, der Rückgang der Gewaltkriminalität von Jugendlichen um fast zehn Prozent innerhalb von zwölf Monaten, insbesondere betrifft dies der Statistik zufolge die »gefährliche und schwere Körperverletzung«. Auch im Bereich der »organisierten Kriminalität«, der wegen der angeblichen Ausweitung der Machenschaften von Motorradclubs wie den Hell’s Angels, Bandidos oder Mongols große mediale Aufmerksamkeit erhält, gibt es keine signifikante Zunahme oder größere überregionale Organisierung.

Wer also die PKS in Gänze betrachtet, könnte durchaus zu dem Ergebnis gelangen, in Deutschland gehe es so wenig kriminell zu wie schon lange nicht mehr. Gewalt spielt – auch innerhalb jugendlicher Milieus – eine geringe Rolle. Ist Deutschland also ein friedliches Idyll? Der Anstieg der Diebstahlsdelikte deutet auf Gegenteiliges hin. Auch wenn die PKS keine Angaben dazu macht: Es liegt nahe, anzunehmen, dass ein Teil derjenigen, auf deren Kosten der Sozialabbau der vergangenen zehn Jahre durchgesetzt wurde, sich zum Diebstahl genötigt sieht.
»Ein Leben ohne kriminelle Bedrohung gehört zu den elementaren Voraussetzungen individueller Entfaltung«, so formuliert es das Bundesinnenministerium in einem Grundsatztext zur Arbeit der Polizei. Doch auch die PKS 2011 macht deutlich, dass die individuelle Entfaltung nicht nur durch kriminelle Handlungen Einzelner bedroht wird, sondern stärker noch durch die zunehmende Armut in Deutschland. Diese lässt manche Menschen kriminell werden, um sich die »elementaren Voraussetzungen indivi­dueller Entfaltung« zu verschaffen.