Warum Netanyahu Neuwahlen braucht

Kein Gegner in Sicht

Im Januar wird es Neuwahlen in Israel geben. Dass es danach einen neuen Ministerpräsidenten gibt, ist eher unwahrscheinlich, doch mit welcher Koalition er regieren könnte, das ist völlig offen.

Als in der Nacht zum Dienstag voriger Woche die Knesset im Eilverfahren alle drei Lesungen des Beschlusses zur Selbstauflösung absolvierte, gab es nur eine Gegenstimme: Eine Abgeordnete hatte aus Versehen den falschen Knopf gedrückt. Eigentlich hätte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu noch bis Oktober 2013 unangefochten im Amt bleiben können. Sein wenig überraschender Beschluss, schon am 22. Januar die Bevölkerung zu den Urnen zu rufen, hat machtpolitische wie wahltaktische Gründe.
Netanyahu verkündete in einer Fernsehansprache, dass er bis Jahresende keinen »verantwortungsvollen« Haushalt vorlegen könne. Dazu war er verpflichtet. Andernfalls wäre es automatisch zu Neuwahlen gekommen. Mit dem Wahltermin im Oktober 2013 vor Augen, so Netanyahu, seien seine Koalitionspartner nicht zu einschneidenden Budgetkürzungen bereit gewesen. Drastische Einschnitte seien aber notwendig, um den wirtschaftlich erfolgreichen Staat Israel nicht wie Griechenland oder Spanien in den Abgrund zu stürzen, erklärte Netanyahu. Selbstverständlich meinte er, es sei nur ihm und seiner verantwortungsvollen Finanzpolitik zu verdanken, dass Israel bisher von der Weltwirtschaftskrise weitgehend verschont geblieben sei.

Hinter dieser Wahlkampfrhetorik stecken taktische Erwägungen. Derzeit ist nämlich weit und breit keine Alternative zu Netanyahu als Ministerpräsident in Sicht. Die einzige Herausforderung könnte der gerade auf Bewährung verurteilte Ehud Olmert bieten. Bis Januar hätte Olmert jedoch kaum die Zeit, sich wieder an der Spitze der zerrütteten Kadima-Partei zu etablieren, falls er sich zur Rückkehr in die Politik entscheiden sollte. Wegen einer Haftstrafe auf Bewährung infolge eines Korruptionsprozesses kann er zwar Abgeordneter und Regierungschef werden, bestehende Gesetze verbieten ihm jedoch ein Ministeramt. Olmert gilt als Netanyahus wichtigster Grund, nicht bis Oktober warten zu wollen.
Dringend notwendige Haushaltskürzungen in allen Bereichen sind keine populäre Vorlage für Neuwahlen. Mit neuem Mandat vom Volk ausgestattet, könnte der nächste Ministerpräsident, auch wenn er wieder Netanyahu heißt, die geplanten Kürzungen vornehmen, ohne von den Wählern bestraft zu werden. Hinzu kommt der desolate Zustand der Oppositionsparteien. Auch das dürfte für Netanyahu ein Grund gewesen sein, jetzt schnell zu handeln und den anderen Parteien und Politikern nicht noch ein Jahr Zeit zur Entwicklung einer Strategie zu geben, um Netanyahu zu Fall zu bringen.
Erste Umfragen nach der Ankündigung von Neuwahlen sahen einen Wahlsieg des »nationalen Lagers« mit 66 Prozent der Stimmen voraus. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde also Netanyahu auch nach dem 22. Januar wieder die nächste Regierung bilden. Aber das »nationale Lager«, mit dem Likud unter Netanyahu, »Israel Beiteinu« unter Außenminister Avigdor Lieberman und Verteidigungsminister Ehud Barak mit seiner eigenen Partei sowie kleineren religiösen Parteien, ist keineswegs stabil. Die meisten Parteien sind nicht auf Wahlen vorbereitet. Selbst die personelle Besetzung der Führungspositionen steht noch keineswegs fest.
Obgleich Netanyahu mangels Alternative als einziger denkbarer Ministerpräsident gilt, ist keineswegs gewiss, ob er sich nach den Wahlen bei der künftigen Regierungsbildung allein auf das »nationale Lager« stützen will und kann. Es sei daran erinnert, dass vor vier Jahren die linke Arbeitspartei unter der Führung von Verteidigungsminister Ehud Barak in seiner Regierung vertreten war und dass es zwischendurch ein 70 Tage andauerndes Bündnis mit der Kadima-Partei unter Shaul Mofaz gab. Nur weil Barak aus der Arbeitspartei austrat und mit vier weiteren Fraktionskollegen eine neue Partei, »Atzma’ut« (Unabhängigkeit), gründete, und die Arbeitspartei draufhin die Regierungskoalition verließ, sitzen die klassischen Sozialdemokraten heute nicht mehr am Kabinettstisch.

Nach den Wahlen wäre alles wieder offen. Die Vergangenheit zeigt, dass in Israel Linke und Rechte, Fromme und Säkulare durchaus eine funktionierende Koalition bilden können. Wenn es um Macht und Einfluss geht, spielen ideologische Differenzen nur eine geringe Rolle. Aller Voraussicht nach dürfte Baraks neue Partei nicht einmal die Sperrklausel von nur zwei Prozent überwinden, so dass Barak nicht mehr als Verteidigungsminister in Frage käme. Die bislang größte Fraktion, Kadima, ein von Ariel Scharon 2005 geschaffenes Sammelbecken ohne politisches Konzept, hat unter der Führung der abgetretenen Tzipi Livni und ihres Nachfolgers Shaul Mofaz viele Sympathien in der Bevölkerung verloren. Livni hat noch nicht entschieden, ob sie in die Politik zurückkehren will. Gegen Außenminister Avigdor Lieberman läuft seit zwei Jahren ein Korruptionsverfahren. Sollte es bis zu den Wahlen zu einer Anklage kommen, müsste er von der politischen Bühne abtreten. Welche Auswirkungen das auf seine zerstrittene rechte Partei Israel Beiteinu hätte, lässt sich nicht vorhersehen.
Zwei Politiker der Opposition könnten für Überraschungen sorgen. Zum einen TV-Star Yair Lapid. Er hat zwar noch kein Programm veröffentlicht, gilt aber als sehr populär und sympathisch. Der ehemalige Fernsehmoderator hat eine Partei »Yesh Atid« (Es gibt Zukunft) gegründet und wirbt mit dem Slogan »gleiche Rechte, gleiche Pflichten« für ein Ende der Privilegien für Orthodoxe. Zum anderen die linke Journalistin Shelly Yachimovich (siehe Seite 4), die ebenfalls als Fernsehmoderatorin bekannt geworden ist. Sie hat der Arbeitspartei als neue Vorsitzende wieder ein markantes Gesicht gegeben. Obgleich es auch ihr an Regierungserfahrung mangelt, könnte sie mit ihren sozialpolitischen Konzepten vor allem bei den ärmeren Bevölkerungsteilen Stimmen sammeln. In den endlosen Debatten zum Wahlkampf wurde sogar schon darüber fabuliert, dass Netanyahu sie zur nächsten Finanzministerin ernennen könnte.
Machtkämpfe gibt es auch unter den Orhtodoxen. Aryeh Deri gilt nach seiner absolvierten Haftstrafe wegen Korruption inzwischen wieder als tragbar, so dass der junge, dynamische Politiker dem eher farblosen derzeitigen Vorsitzenden der sephardisch-orthodoxen Shas-Partei, Eli Yishai, den Rang ablaufen könnte. Der 91 Jahre alte geistige Führer dieser Partei, Rabbi Ovadia Yosef, wird zwischen Deri und Yishai entscheiden. Der Rabbi hat bei der Beschneidung seines Enkels dem als Gast anwesenden Yishai dreimal auf die Backe gewatscht, Deri nur zweimal. Alle israelischen Medien mitsamt »Experten« diskutierten anschließend eifrig, ob die Zahl der immer wieder im Fernsehen vorgeführten liebevollen Ohrfeigen ein politisches Zeichen sei. Innerhalb der Shas-Partei gibt es keine demokratischen Strukturen, sondern nur Beschlüsse »von oben«.
Völlig offen sind auch die Schwerpunktthemen beim Wahlkampf. Sicherheitsfragen wie der Terror im Sinai, Raketenbeschuss aus Gaza, die Entwicklung in Syrien und die iranische Atombombe können plötzlich alles überschatten. Da der Friedensprozess erlahmt ist, werden die Palästinenser wohl bestenfalls eine nebensächliche Rolle spielen.

Doch bekanntlich kann ein einziger Volltreffer einer Rakete der Hamas auf einen Kindergarten die Stimmung in Israel schlagartig verändern. Die Israelis sind daran gewöhnt, jederzeit mit Überraschungen zu rechnen. Das gilt auch für die Lage im Libanon und in Syrien, deren weitere Entwicklung niemand vorhersagen kann. Dieser Tage hieß es, dass die israelische Armee auf den Golanhöhen bereits ein Gelände eingeebnet habe, auf dem mögliche Flüchtlinge aus Syrien einquartiert werden könnten. Bisher ist Israel der einzige Nachbarstaat Syriens, in den noch keine Flüchtlinge geströmt sind. Gleichwohl sind nach 40 Jahren völliger Ruhe entlang der Waffenstillstandslinie auf den Golanhöhen zweimal Granaten aus Syrien auf israelisch kontrolliertem Gebiet eingeschlagen, ohne jedoch Schaden anzurichten. Die innersyrischen Kämpfe sind so nah an die Grenze vorgerückt, dass sie von Israel aus gehört und mit bloßem Auge beobachtet werden können. Auch unbeabsichtigt kann es da leicht zu einem Zwischenfall kommen, der plötzlich alles ändert.
Spätestens durch seinen Auftritt mit einem Bomben-Cartoon und einem roten Filzstift vor der Uno hat Netanyahu der Welt signalisiert, dass ein israelischer Angriff auf den Iran vorerst nicht zur Debatte stehe. Netanyahu rühmt sich zudem, die westliche Welt und die Amerikaner von der Gefahr einer iranischen Atombombe überzeugt zu haben, was zu diplomatischem Druck auf Teheran und schmerzhaften Sanktionen geführt habe. Netanyahu selbst hat bisher keine offene Kriegsdrohung gegen den Iran ausgesprochen, was weder Medien in aller Welt noch Politiker und ehemalige israelische Militäroffiziere und Geheimdienstchefs gehindert hat, ihm genau dies zu unterstellen und ihn als Gefahr für die Welt zu brandmarken. Bei den innerisraelischen Debatten wurde schnell klar, dass da auch persönliche Fehden ausgetragen wurden. Deshalb dürfte die Debatte über einen eventuellen Angriff auf den Iran kein relevantes Thema werden, mit dem die Regierung oder die Opposition den Wahlkampf für sich entscheiden könnten.
Vermutlich sind die sozialen Themen am Ende doch die entscheidenden. Den normalen Israeli erinnert jeder Gang zum Supermarkt an die eigene wirtschaftliche Misere, während der Ministerpräsident sich rühmt, Israel geschickt und erfolgreich durch die Weltwirtschaftskrise gelenkt zu haben. Doch fast vier Euro für ein Kilo Gurken oder Tomaten lassen sich auch mit den glamourösesten Wahlversprechen nicht schönreden. Der sogenannte soziale Aufstand vom Sommer 2010 ist zwar noch in Erinnerung, hat aber keine echten Auswirkungen mehr. Wohnungen sind immer noch unerschwinglich teuer. Der Hüttenkäse, der ursprünglich jenen Aufstand ausgelöst hatte (Jungle World 31/11), kostet in Israel immer noch doppelt so viel wie in Großbritannien.
Dennoch herrscht weithin die Ansicht, dass der Staatshaushalt begrenzt sei und dass Gehaltsaufbesserungen für Krankenschwestern oder billigere Sozialwohnungen am Ende mehr Steuern, weniger Straßen und weniger Schutz vor Raketenbeschuss bedeuten. Auch die linken Parteien mit ausgeprägter »Sozial­agenda« haben für das haushaltspolitische Dilemma noch keine überzeugende Lösung vorgelegt.
Daher ist auch nicht abzusehen, wer mit der sozialen Frage wie stark im Wahlkampf punkten und was am Ende wirklich ausschlaggebend sein wird. 1988 gab es in der Nacht vor dem Wahltag einen palästinensischen Terroranschlag auf einen israelischen Bus bei Jericho. Eine Frau und ihre beiden Kinder verbrannten bei lebendigem Leib. Shimon Peres verlor deshalb die Wahl an den konservativen Yitzhak Shamir.