»Das Phänomen verstehen«

Der Geburtstag naht: Seit beinahe zehn Jahren gibt es die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Kiga). Vor allem für die Präventionsarbeit mit muslimisch sozialisierten Jugendlichen ist sie bekannt. Das Gründungsmitglied Aycan Demirel hat mit der Jungle World gesprochen.

Weshalb wurde die Kiga vor beinahe zehn Jahren gegründet?
In der Wahrnehmung der Gründer gab es einen zunehmenden Antisemitismus am Arbeitsplatz, im sozialen Umfeld, in der Schule und im Jugendbereich, in dem einige tätig waren. Wir wollten das Phänomen verstehen und dagegen vorgehen.
Hat sich in den zehn Jahren etwas verändert?
Die empirische Forschung belegt, dass der Antisemitismus Höhen und Tiefen hat. Man konnte eine Zunahme antisemitischer Äußerungen beobachten, als es um den Nahost-Konflikt oder die Beschneidung ging. Daneben gibt es eine Konstante von ungefähr 15 Prozent Antisemiten in der Bevölkerung. Durch unsere Arbeit der vergangenen zehn Jahre haben wir auf jeden Fall sehr viel Wissen über antisemitische Einstellungen gewonnen. Diese Erkenntnisse sind wiederum für die Präventionsarbeit wichtig.
Antisemitismus ist grundsätzlich keine Frage mangelnder Bildung. Stößt man bei der Bildungsarbeit da nicht an Grenzen?
Die allerwenigsten Jugendlichen sind ideologisch gefestigte Antisemiten. Sie schnappen antisemitische Klischees in der Familie, in sozialen Medien oder in ihrer peer group auf. Ich würde sagen, dass in den vergangenen zehn Jahren auf 100 Jugendliche jeweils einer kam, aus dessen Aussagen ersichtlich wurde, dass es sich um einen ideologisch gefestigten Antisemiten handelte. Das Setting setzt der Arbeit häufiger Grenzen als die Einstellungen der Jugendlichen. Habe ich nur ein 90minütiges Gespräch mit Schülern oder einen größeren Rahmen, in dem ich besser auf ihre Fragen, Wünsche und Bedürfnisse eingehen kann?
Wie hat sich die Kiga in den vergangenen zehn Jahren finanziert?
Wir haben uns aus Programmen des Bundesfamilienministeriums finanziert. Im vergangenen Förderungsturnus mussten wir uns aber bereits um eine Kofinanzierung kümmern, was sehr aufwendig und arbeitsintensiv war.
Wie steht es um die Förderung im Jubiläumsjahr?
Am 1. Januar läuft die Förderung vollständig aus. Wir haben deshalb eine Spendenkampagne begonnen und hoffen, so zunächst die Miete für unsere Räume und die Stromkosten decken zu können. Die entscheidende Frage ist, wann die nächste Regierung steht und ob sie die langfristige Förderung von Initiativen sichern wird.