Großbritannien streicht Sozialleistungen für EU-Bürger

Garstig ins neue Jahr

Die britische Regierung beschließt eine Beschränkung der Sozialleistungen für Bürger anderer EU-Staaten.

Von der prophezeiten Invasion war wenig zu bemerken. Am 1. Januar wurden die bisher geltenden Restriktionen der Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren aufgehoben, die seit dem EU-Beitritt ihrer Länder im Jahr 2007 ohne Visum innerhalb der EU reisen konnten, allerdings in einigen Ländern – darunter Großbritannien, Deutschland und Frankreich – Beschränkungen bei der Arbeitserlaubnis unterlagen. Doch wurden in Großbritannien keine Extraflüge und Sonderbusse registriert, in den Linienflügen waren Anfang Januar noch Plätze frei.
Rechtspopulisten wie Nigel Farage dürfte das nicht beeindrucken. Für den Vorsitzenden der antieuropäischen United Kingdom Independence Party (UKIP) bedeutet der Wegfall der Einschränkungen, dass Großbritannien von einer Flut bulgarischer und rumänischer Einwanderer überlaufen werden wird, die den Briten entweder ihre Arbeitsplätze wegnehmen oder dem Staat zur Last fallen, indem sie Wohn- und Arbeitslosengeld beziehen.
Auch die Tories bekunden ihre Sorge über die Auswirkung, die Einwanderung aus Osteuropa auf die britischen Sozialsysteme haben könnte. In letzter Minute vor Ablauf der Restriktionen und auf Druck seiner Partei kündigte der konservative Premierminister David Cameron neue Regelungen bei den Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten aus der Europäischen Union an. Nach den neuen Regeln haben sie keinen Anspruch auf Wohngeld und müssen drei Monate in Großbritannien ansässig sein, bevor sie Arbeitslosengeld beantragen können. Der bisher leicht zu bestehende und über die Vergabe von Sozialleistungen entscheidende Habitual Residency Test soll erschwert werden und die Bedingung einschließen, dass Neuankömmlinge die englische Sprache beherrschen. Das Arbeitslosengeld kann dann nur für sechs Monate bezogen werden, wenn nicht überzeugend dargelegt wird, dass die Aussicht auf ein Arbeitsverhältnis besteht. Das Gehalt von arbeitenden Migrantinnen und Migranten muss eine Mindestgrenze überschreiten, wenn diese Zuschusszahlungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beantragen wollen. Obdachlose EU-Bürger sollen abgeschoben werden und zwölf Monate lang nicht wieder einreisen können. Ziel dieser Maßnahmen ist es Cameron zufolge, »Wohlfahrts­tourismus« zu vermeiden.

Es gibt keine offiziellen Schätzungen, wie viele Rumänen und Bulgaren in den kommenden Jahren nach Großbritannien kommen wollen. Derzeit arbeiten etwa 100 000 Rumänen und Bulgaren dort. Schätzungen der Neuzuwanderung ab 2014 reichen von 13 000 bis 300 000. Nigel Farage zeichnet sogar ein noch bedrohlicheres Bild und weist darauf hin, dass mit dem Wegfall der Beschränkungen der Freizügigkeit 29 Millionen Menschen das Recht gewinnen, in Großbritannien zu arbeiten und Sozialleistungen zu beziehen.
Kritiker der neuen Regelungen, darunter die bulgarische und rumänische Regierung, heben hervor, dass eine Massenmigration nicht zu erwarten sei. Großbritannien sei nicht das Auswanderungsland erster Wahl für Rumänen und Bulgaren, beliebtere Ziele seien Spanien und Italien. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Alleingang Großbritanniens. László Andor, EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, kritisierte die Entscheidung Camerons, unilateral die Freizügigkeit von Bulgaren und Rumänen einzuschränken. Die bisherigen Regelungen innerhalb der EU reichten aus, um »Wohlfahrtstourismus« zu vermeiden, und die »Überreaktion« und »Hysterie« könnten dazu führen, dass Großbritannien als »nasty country« (garstiges Land) gesehen werde. Einige britische Medien verstanden aufgrund der Aussprache »Nazi country«.
Die britische Regierung beeindruckt die Kritik jedoch wenig, da sie sich bei der Restriktion von Einwanderung aus Osteuropa breiter öffentlicher Unterstützung sicher sein kann. Auch die Labour Party ist davon überzeugt, dass der Empfang von staatlichen Leistungen für Migrantinnen und Migranten bestimmten Bedingungen unterliegen sollte. David Cameron betonte, dass der »monumentale Fehler« der Labour-Regierung bei der Einwanderung aus Polen nicht wiederholt werden dürfe. Seit die Einschränkungen der Arbeitserlaubnis für Polen 2004 aufgehoben wurden – während etwa Deutschland Res­triktionen aufrecht erhielt –, kamen wesentlich mehr als die geschätzten 15 000 Polen, nämlich mehr als 100 000 pro Jahr, nach Großbritannien. Die Einwanderung aus Osteuropa ist seitdem ein großes Thema, wobei das Bild des »vollen Bootes« mit antipolnischem Ressentiment verbunden wird. Eine Schlagzeile in der rechtskonservativen Tageszeitung Daily Mail lautete beispielsweise »Polen überfluten England«.
Der Regierung geht es aber nicht allein um die Beschränkung von Einwanderung und den Rückzug aus der EU-Integration. Die neuen Regelungen müssen im Zusammenhang langfristiger Pläne zum Abbau des Sozialstaats gesehen werden. Die von der konservativ-liberalen Koalitionsregierung im Jahr 2012 vorgenommenen Änderungen der Wohlfahrtsgesetze beinhalteten nicht nur eine schärfere Bekämpfung von »Sozial­leistungsbetrug«, sondern auch eine umstrittene Kürzung des Wohngeldes in Form einer bed­room tax, einer Abgabe für die Anzahl von Zimmern in Sozialwohnungen, die über das hinausgeht, worauf ein Sozialleistungsempfänger Anspruch hat. Cameron sagte, dass die neuen Regelungen Teil eines langfristigen Wirtschaftsplanes seien und die Sozialleistungs- und Einwanderungssysteme »repariert« werden sollten, um eine Kultur des »etwas für nichts« zu beenden. Die Debatte über »fremde« Sozialleistungsempfänger kommt ihm daher sehr gelegen.