Die Retrospektive der Berlinale »Aesthetics of Shadow«

Bei Licht besehen

Die Retrospektive der Berlinale widmet sich in diesem Jahr dem Licht im Film.

Im Schatten des Yoshiwara« von Teinosuke Kinugasa ist ein finsterer Stummfilm aus dem Jahr 1928 über Armut, Ausbeutung, fatales Begehren und die Verführungen des modernen Konsums. Dennoch ist er ganz wesentlich bestimmt von Licht – von einem hellen, strahlenden, weißen Licht. Die japanische Architektur und Innenausstattung, aber auch Kleidung, Accessoires und Schminkkonventionen scheinen, die expressiven Lichteffekte geradezu zu provozieren. Mitunter erinnern die entfesselten Szenen im Vergnügungsviertel Yoshiwara entfernt an die Lichtspiele der filmischen Avantgarde: Schatten werden auf shojis (die in der traditionellen japanischen Architektur allgegenwärtigen Raumteiler) geworfen, weiße Papierlampen geraten in den Fokus der Kamera, aber auch andere Objekte wie weiße Asche oder das grellweiß gepuderte Gesicht einer Geisha.
Eine solch differenzierte Lichtgestaltung wäre zehn Jahre zuvor noch undenkbar gewesen. Vorherrschend waren eine gleichmäßige, flache Ausleuchtung der gesamten Szenerie und der weitgehende Verzicht auf Schatten, wie sie auch im Kabuki-Theater bestimmend war. Inzwischen aber hatte sich im japanischen Film eine Lichtästhetik etabliert, die eigene kulturelle Traditionen mit Einflüssen des deutschen und amerikanischen Kinos verband: »Im Schatten des Yoshirawa« offenbart eine Nähe zu den kontrastreich beleuchteten »Straßenfilmen« der Weimarer Republik, etwa zu Karl Grunes »Die Straße« (1923), aber auch zu Murnaus »Der letzte Mann« (1924) – Filme, in denen Verführung und Gefahr die treibenden Kräfte sind. Dabei war das ausführende Filmstudio eigentlich für seinen Slogan »Helle und fröhliche Filme von Shochiku« bekannt.
Unter dem Titel »Ästhetik der Schatten« richtet die Retrospektive der Berlinale in diesem Jahr das Interesse auf das Licht im Film. Zu sehen sind rund 40 Stumm- und Tonfilme unterschiedlicher Genres, die zwischen 1915 und 1950 in Japan, den USA und in Europa entstanden. Die offensichtlich schattenintensiven Gattungen Horrorfilm und Film Noir werden bewusst ausgelassen – auch wenn mit Jules Dassins »The Naked City« (1948) ein herausragendes Beispiel für den semidokumentarischen, stadtporträthaften Film Noir vertreten ist, das geradezu wie ein Vorläufer von Polizeiserien wie »The Wire« wirkt. Gezeigt werden jidaigeki (Historienfilme, die in der vormodernen Periode Japans spielen, also vor 1868), als eher realitätsnah geltende Genres wie Kriegsfilm und Straßenfilm, Filme, in denen das Licht vorwiegend auf die Illumination der Stars ausgerichtet ist, aber auch der Avantgardefilm mit seinen radikalen Lichtexperimenten. Im Zentrum des Programms stehen der Import sowie die wechselseitige Einflussnahme und die Adaption verschiedener Beleuchtungsstile. Ausgangspunkt dieser transnationalen Geschichte des Filmlichts ist eine Publikation des Filmwissenschaftlers Daisuke Miyao, der auch an der Filmauswahl beteiligt war. In »The Aesthetics of Shadow. Lighting and Japanese Cinema« schreibt Miyao eine Genealogie der Ästhetik des Schattens im japanischen Kino der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Natürlich könnte das Kino ohne das filmische Licht nicht existieren. Doch erst die licht- und filmtechnischen Entwicklungen in der Zeit der Weimarer Republik (beispielsweise die Entdeckung der Beweglichkeit der Kamera, die das Glashausstudio und dessen Sonnenlichtbeleuchtung ablösenden dark studios des Tonfilms, die Drei-Punkt-Beleuchtung, die kontrastreiche Lasky-Beleuchtung und die Entwicklung des weitaus lichtempfindlicheren panchromatischen Filmmaterials) eröffneten dem Kino Möglichkeiten, das Licht zu »setzen« und nicht nur abzubilden. Beeinflusst vom expressionistischen deutschen Film der zwanziger Jahre und von klassischer Hollywood-Lichtführung, von eigenen Traditionen in der Architektur, in der Malerei und im Kabuki-Theater – und nicht zuletzt auch von Modernisierungsprozessen wie dem Wandel des öffentlichen Raums durch Neonlicht und Reklame –, entwickelte sich in Japan eine expressive Lichtgestaltung. Allerdings mussten sich die existierenden Sehgewohnheiten der neuen Ästhetik gegenüber erst öffnen. Noch 1920 beklagten sich die Zuschauer bei der Vorführung eines kontrastreich beleuchteten Films über die Undeutlichkeit der Bilder.
Das 1895 gegründete Studio Shochiku betrieb traditionelles Kabuki-Theater, bevor es seine Produktion auf den Filmmarkt ausweitete. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Expansion – und an der Autonomisierung des Kinos von der Theatertradition – leistete Henry Kotani, ein in die USA emigrierter Kameramann, der unter Cecil B. DeMille gearbeitet hatte. Kotani wurde von Shochiku engagiert und nach Japan zurückgeholt, um den japanischen Film auch international konkurrenzfähig zu machen. Er führte die technischen Innovationen des Hollywood-Kinos ein. Hierzu zählte auch die Lasky-Beleuchtung, die durch den Einsatz von Reflektoren eine selektive Lichtführung und scharf konturierte Schatten ermöglichte. Auf der Berlinale gezeigt wird außerdem seine einzige überlieferte Regiearbeit »Das Licht des Herzens« (1926).
In dem jidaigeki-Film »Yukinojos Verwandlung« (1935/1952) funkeln die Schwerter der Samurai im fahlen Mondlicht oder unter flackernden alten Straßenlaternen – eine Referenz sind hier US-amerikanische Mantel-und-Degen-Filme wie »Das Zeichen des Zorro« (1920) von Fred Niblo, die in Japan vor allem durch den dort verehrten Hollywood-Schauspieler Douglas Fairbanks Sr. Popularität erlangten. Der Regisseur Teinosuke Kinugasa adaptierte das Hollywood-Ideal der glamourösen Ausleuchtung, das Henry Kotani schon für ­einige weiblichen Shochiku-Stars übernommen hatte und entwickelte für seinen Hauptdarsteller Chojiro Hayashi ein differenziertes Lichtkonzept. Dieses war maßgeblich an Hayashis Aufstieg zum Star des japanischen Kinos beteiligt. In Mikio Naruses »Tsuruhachi und Tsuru­jiro« (1938) erstrahlt er in einem seitlich gesetzten Spotlight, ganz ähnlich wie Greta Garbo in dem amerikanischen Film »­Flesh and the Devil« (1926) von Clarence Brown.
Als der Schauspieler Opfer eines gewaltsamen Überfalls wurde, der sein Gesicht mit schweren Narben zeichnete, benutzte er fortan seinen Geburtsnamen, Kazuo Hasegawa. Nicht nur hier zeigt sich die Geschichte des filmischen Lichts auch als eine Geschichte der Distinktion: Unter seiner zweiten Identität wurde Hayashi/Hasegawa in ein anderes, wesentlich schatten­orientiertes Licht gesetzt. Diese Präsenz von Dunkelheit in seinem Leinwandimage entsprach einer neuen Tendenz im japanischen Kino, die von kontrastreich ausgeleuchteten Hollywood-Filmen wie Josef von Sternbergs »Shanghai Express« (1932) geprägt war. In seiner Autobiographie widmete der Hollywood-Regisseur österreichischer Herkunft dem Licht ein Kapitel, in dem er schreibt: »Jedes Licht wirft einen Schatten. Wo Schatten ist, da muß auch Licht sein. Der Schatten ist geheimnisvoll, und das Licht ist Klarheit. Schatten verbirgt, Licht enthüllt. (Das ist die ganze Kunst – zu wissen, was man enthüllt und was man verbirgt, in welchem Maße und wie man das tut).«
Sternbergs Kunst des Glamours und sein magisches Spiel mit Licht und Schatten fanden in Japan glühende Anhänger. Der Schauwert des Paramount-Pictures-Stars Marlene Dietrich wurde in seinen Filmen durch ein steil einfallendes Führungslicht gesteigert (der Kameramann Lee Garmes nannte es »Nordlicht«), während hinter der Inszenierung des Konkurrenzprodukts von MGM ein gänzlich anderes Beleuchtungskonzept – nämlich Seitenlicht – stand.
Roland Barthes beschreibt in einer seiner Betrachtungen aus seinem Werk »Mythen des Alltags« mit dem Titel »Das Gesicht der Garbo« – neben den Wirkungen, die der Schminke und ihrer ganz spezifisch »göttlichen« Ausstrahlung geschuldet waren – die modellierenden Effekte einer ikonisierenden Lichtinszenierung wie sie für Garbo (aber auch für Dietrich und Hayashi/Hasegawa) charakteristisch waren, selbst wenn er nicht explizit von Licht spricht: »Die Garbo gehört noch in jene Phase des Kinos, in der die Aufnahme des menschlichen Gesichts die Massen in die größte Verwirrung stürzte, in der man sich buchstäblich im Bild eines Menschen verlor wie in einem Zaubertrank, in der das Gesicht gleichsam einen absoluten Zustand des Fleisches bildete, den man nicht erreichen und von dem man sich nicht lösen konnte.«
Mitunter bewirkte die Staroptimierungsmaschinerie Hollywoods auch recht irre Erfindungen: Für »Mata Hari« (George Fitzmaurice, 1931) versteckte der Kameramann William H. Daniels eine winzige Glühbirne, wie sie normalerweise bei medizinischen Untersuchungen der Nasenhöhle eingesetzt wurde, in einer Zigarette. Bei jedem Zug wurde sie zum Leuchten gebracht und warf ein geheimnisvolles, erotisierendes Licht auf Garbos Gesicht. Heute wirken Garbos und Dietrichs Auftritte auch deshalb so hypnotisierend, weil im zeitgenössischen Kino, zumal im Autorenfilm, so viel personenfixierte Überspanntheit schlichtweg undenkbar wäre.
Wechselseitige Einflüsse sind auch im Kriegsfilm zu beobachten – interessant ist es etwa, die Darstellung des Angriffs auf Pearl Harbor 1941 in Kajiro Yamamotos »Die Schlacht von Hawaii und in der Malaien-See« (1942) und »Air Force« (1943) von Howard Hawks zu vergleichen. Die generischen Konventionen sehen zwar eine größere Verpflichtung zum Realismus vor – etwa durch Aufnahmen und Schauplätze realer Kriegsereignisse – doch auch hinter der Low-Key-Beleuchtung lässt sich eine dezidierte ästhetische Gestaltung ausmachen. Diese spiegelt sich auch in Klassikern wie John Fords »The Grapes of Wrath« (1940), Orson Welles’ »Citizen Kane« (1941) und in »The Naked City« wider.
Natürlich hat die transnationale Entwicklung der Lichtkunst auch eine politische Ebene. Der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nazis aus Deutschland vertriebene Eugen Schüfftan – er gab sein Debüt 1930 in dem semidokumentarischen »Menschen am Sonntag« (Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Rochus Gliese) – war gezwungen, im amerikanischen und französischen Exil zu arbeiten und leistete für Marcel Carnés »Hafen im Nebel« (1938) eine unvergessliche Kameraarbeit.
Neben diesen Klassikern präsentiert die Retrospektive auch viele unbekannte Schätze. Nicht verpassen sollte man das durch weiches, milchig strahlendes Licht bezaubernde japanische Musical »Die Liederschlacht der Mandarinenten« (1939) des »japanischen Busby Berkeley« Masahiro Makino – ein Film in. Erneut sind es traditionelle japanische Accessoires die bekannten Papierschirme, die die Lichteffekte initiieren.

Die Retrospektive »Aesthetics of Shadow. Lighting Styles 1915–1950« findet im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin vom 6. – 16. Februar statt.