Schuldig!

Tunis, an einem Abend im September 2012. Meriem Ben Mohammed – sie ist nur unter diesem Pseudonym in der Öffentlichkeit bekannt – sitzt mit ihrem Freund im Auto, sie umarmen sich. Plötzlich tauchen drei Polizisten auf. Einer zwingt ihren Freund, mit ihm zu einem Geldautomaten zu gehen, um Geld von ihm zu erpressen. Die anderen beiden vergewaltigen Meriem. Später versuchen Meriem und ihr Freund, Anzeige zu erstatten. Mehrere von ihnen aufgesuchte Ärzte weigern sich, ein Attest über die Vergewaltigungen auszustellen. Die beiden werden von Polizeirevier zu Polizeirevier geschickt, bis – rund 24 Stunden nach den Vergewaltigungen – die Anzeige endlich aufgenommen wird.
Es kommt zur Anklage – auch gegen Meriem, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten. Das kann sechs Monate Haft bedeuten. Eine Frau im Minirock, ohne Kopftuch, begleitet von einem Mann, in der Nacht! Und weil sie vergewaltigt wurde, kann sie nicht als Jungfrau in die Ehe gehen – in Tunesien eine Schande für die ganze Familie. Meriem fürchtet die Reaktionen ihres Vaters und ihres Bruders, wenn sie erfahren, was ihr widerfahren ist. Aber sie will die Verurteilung der Polizisten erreichen. Dank der Unterstützung ihres Freunds und ihrer Anwältinnen sowie einer internationalen Solidaritätskampagne wird sie Ende November 2012 freigesprochen. Doch ihre Freunde beginnen, sie zu meiden, die Nachbarn grüßen sie nicht mehr. Um dem gesellschaftlichen und familiären Druck zu entkommen, geht Meriem nach Frankreich, um weiter zu studieren. Dort schreibt sie zusammen mit einer Journalistin ein Buch. »Schuldig, vergewaltigt worden zu sein« ist der Titel.
Der Prozess gegen die Polizisten schleppt sich dahin. Meriems Familie sagt, sie werde von Angehörigen der angeklagten Polizisten bedroht. Ein psychologisches Gutachten bescheinigt Meriem eine Depression, die durch posttraumatischen Stress verschärft wird. Am Dienstag, anderthalb Jahre nach der Tat, ergeht das Urteil: je sieben Haft für die beiden Vergewaltiger, zwei Jahre Haft für den Polizisten, der Geld erpresste.
Vergewaltigungen sind ein gesellschaftliches Tabuthema in Tunesien, meist werden die Opfer beschuldigt, sie herausgefordert zu haben. Auch an Meriem geht diese Tabuisierung nicht spurlos vorbei: Sie selbst fühle sich schuldig für das Leid, das sie ihre Familie durch diese Geschichte habe erfahren lassen, sagte sie im Januar. Ein weiteres Tabu sind kriminelle Verhaltensweisen von Polizisten, die meist straflos bleiben – ein Erbe des Polizeistaats, der unter Ben Ali herrschte. Durch ihr mutiges Beharren auf einer Verurteilung der Täter hat Meriem beide Tabus zumindest angekratzt.