Sozialer Wohnen im ehemaligen Philosophicum in Frankfurt

Ein anderer Grundriss ist möglich

Nach langem Gerangel hat eine Frankfurter Initiative den Zuschlag für das ehemalige »Philosophicum« erhalten. Der Funktionsbau von Ferdinand Kramer soll künftig Platz für 150 Bewohner und soziale Projekte bieten – mitten in der Innenstadt. Nun sammelt die Gruppe Geld.

Wer vor dem Objekt der Begierde in der Frühlingssonne sitzt, blickt auf eine heruntergekommene Fassade, auf zerschlagene Fensterscheiben und bröckelnden Beton. Ganz anders sieht das Gebäude in der Broschüre aus, die Steffen Bennewitz, Jeronimo Voss und Samantha Perkins von der »Projektgruppe Philosophicum« mitgebracht haben. Sie zeigt, wie das einstige Universitätsgebäude nach der Sanierung aussehen könnte, auf einer Skizze sind eine begrünte Dachterrasse und bunte Sonnenschirme ebenso zu erkennen wie Menschen, die ein- und ausgehen.

Die gespenstische Tristesse, die das Frankfurter Philosophicum zurzeit umgibt, könnte also bald vergessen sein und einem kühnen Vorhaben weichen: der Bereitstellung von halbwegs erschwinglichem Raum für soziale Projekte und 150 Bewohnerinnen und Bewohner mitten in einer der teuersten Städte Deutschlands. Eine Mischung aus Wohngemeinschaften, betreutem Wohnen und Einzelapartments zu höchstens zehn Euro Kaltmiete je Quadratmeter soll hier entstehen, mit Gemeinschaftsräumen, Ateliers, einer Kita und einem Café im Untergeschoss, mit einem Stadtteilbüro und allerlei anderen Dingen, die allmählich aus der Frankfurter Innenstadt verschwinden. All das soll in den acht Stockwerken des Philosophicums Platz finden. Darum bemüht sich die Projektgruppe seit Jahren. Es ist ein gigantisches Vorhaben – und es könnte realisiert werden.
Vor einigen Wochen hat die Initiative von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft ABG Holding den Zuschlag für das ehemalige Universitätsgebäude im Stadtteil Bockenheim erhalten, nach Jahren des lokalpolitischen Streits und einer hitzig geführten öffentlichen Debatte. Frank Junker, der Vorsitzende der Geschäftsführung der ABG, hätte das 1960 unter der Leitung des Architekten Ferdinand Kramer errichtete Institutsgebäude am liebsten abgerissen oder an den meistbietenden Interessenten verkauft. Zwei Investoren zeigten Interesse, die das Philosophicum gern zu einem Wohnkomplex für Besserverdienende verwandelt hätten und etwa zwei Millionen Euro mehr zahlen wollten als die Projektgruppe, die ursprünglich mit einem Gebot von fünf Millionen angetreten war.
Dass die ABG nun doch an die Initiative verkaufen will, ist ziemlich überraschend. »Alles deutete darauf hin, dass auf dem ehemaligen Unicampus ein zweites Europaviertel entstehen würde«, sagt Steffen Bennewitz, 29 Jahre, Angestellter. Das Frankfurter Europaviertel, das im Stadtteil Gallus gerade aus dem Boden gestampft wird, ist ein stadtplanerisches Desaster – ein öder Ort mit teuren Wohnungen, eintönigen Boulevards und Shopping-Mall. Längst ist die ABG dabei, auch den ehemaligen Universitätscampus Bockenheim auf ähnliche Weise zu verändern.
Seit die ABG das Universitätsgelände 2011 vom Land Hessen gekauft hat und die Goethe-Universität dabei ist, allmählich in den als hochmodern bejubelten und historisch belasteten Ort des ehemaligen Verwaltungskomplexes der IG Farben umzuziehen, ist der alte Campus ein umkämpftes Terrain. Ein sogenannter Kulturcampus soll dort nach dem vollständigen Umzug der Universität im Jahr 2017 entstehen. Darunter verstehen die Planer eine Kombination aus Büros, Wohnungen und einigen Kulturstätten wie der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, die dort angesiedelt werden sollen. Die ABG möchte auf dem Areal 1 200 Wohnungen bauen. Hinter dem Bockenheimer Depot hat sie damit bereits begonnen, dort werden derzeit Eigentums- und Mietwohnungen errichtet, die ab 12,50 Euro Kaltmiete sicherlich finanzkräftige Mieter finden werden. Im Erdgeschoss befindet sich ein Rewe.
Um zu verhindern, dass aus dem Campus ein weiterer öder Ort in der Frankfurter Innenstadt entsteht, übernahm eine anfangs überschaubare Gruppe Bockenheimer Anwohnerinnen und Anwohner aus dem Umfeld des Stadtteilbüros die Initiative. Sie engagierte sich in den Planungswerkstätten, die von der Stadt eingerichtet wurden, um kritischen Stimmen Gehör zu verschaffen. »Dabei handelte es sich aber eher um eine symbolische Einbindung«, kritisiert Steffen Bennewitz rückblickend. Die Initiative hatte sich das Philosophicum als strategisch wichtiges Gebäude herausgepickt, um in die Diskussion um die Stadtplanung einzugreifen. Die Gruppe bestand darauf, dass der Bau, den der Architekt Ferdinand Kramer im Auftrag des damaligen Rektors der Universität, Max Horkheimer, entworfen hatte, für gemeinschaftliches und genossenschaftliches Wohnen genutzt werden müsse, und legte Pläne vor.

Die Pläne für das schnörkellose Stahlskelett bringen Jeronimo Voss, 32 Jahre, Künstler, ins Schwärmen: »Dieser Funktionsbau der Nachkriegsmoderne hat keine tragenden Wände, das heißt: Hier ist jeder Grundriss möglich.« Etagen können also aus einem einzigen Raum oder 14 Zimmern bestehen, aus einer Groß-WG, einer Werkstatt oder mehreren Single-Apartments. Flex­ibel könnte man Kramers Bauvorlage nennen, wäre dieser Begriff nicht schrecklich abgenutzt.
Ein zentrales Waschhaus und eine gemeinschaftliche Werkstatt sollen im Philosophicum genau so Platz finden wie das Kramer-Archiv und gemeinsame Arbeitsplätze. »Ich habe vor allem Lust, gemeinschaftlich zu wohnen«, sagt die 21 Jahre alte Studentin Samantha Perkins. Nervenaufreibende Plena, die damit vermutlich auch verbunden sein dürften, schrecken keinen aus der Gruppe ab. »Ich will mit vielen unterschiedlichen Leuten, die alle irgendwie basisdemokratisch unterwegs sind, zusammen die Reproduktion gestalten«, sagt Steffen.
Man sei eine sehr heterogene Gruppe, bemerkt der Erziehungswissenschaftler zu der Frage, ob man es sich im Philosophicum nicht unter Seinesgleichen allzu gemütlich machen könne, und zitiert gleich aus der internen Statistik: von Kindergartenkindern über prekäre Existenzen, von Verwaltungsangestellten bis zu Rentnerinnen und Rentnern sei im Philosophicum alles vertreten. Ein Viertel der Wohnfläche sei für sogenannte Geringverdiener reserviert und solle über Fördermittel finanziert werden. Für Steffen hängt an dem Gebäude auch ein »Stück IvI«. Das selbstverwaltete linke Projekt »Institut für vergleichende Irrelevanz« hatte fast zehn Jahre einen anderen Kramer-Bau besetzt – das ehemalige Institut für Amerikanistik und Anglistik, bis es vor einem Jahr geräumt wurde.
Während die Pläne der Projektgruppe immer größeren Anklang fanden und die Liste mit potentiellen Bewohnern des Philosophicums immer länger wurde, sahen sich die Mitglieder der Initi­ative mit dem zähen Procedere der Stadtplanungspolitik konfrontiert. Ein Architekturbüro wurde beauftragt, ein Konzept zur Sanierung des Gebäudes zu entwickeln, das der ABG vorgelegt wurde, die es zur Überarbeitung zurückschickte. Ein Finanzierungsplan wurde entworfen.
Die Projektgruppe konnte die GLS-Bank und das Freiburger Mietshäusersyndikat für eine Zusammenarbeit gewinnen. Kauf- und Sanierungskosten sollen zu 75 Prozent mit einem Darlehen und zu 25 Prozent aus Eigenmitteln finanziert werden. Verkehrs- und Bodenwertgutachten wurden in Auftrag gegeben, die bescheinigten, dass ein Kaufpreis von höchstens fünf Millionen Euro gerechtfertigt sei. Die Projektgruppe musste sich das nötige Bürokratendeutsch und Fachwissen aneignen (»DIN-Kostenschätzung«), während der ABG-Leiter Frank Junker in der Lokalpresse tönte, er habe beim Kulturcampus »nichts zu verschenken«. Doch letztlich konnte das CDU-Mitglied Junker wohl doch nichts ausrichten. Am 30. März wurde bekannt, dass das Philosophicum an die Projektgruppe veräußert wird – zum Preis von 6,1 Millionen.
Die Einigung als Triumph ohne Widersprüche zu verkaufen, wäre falsch. »Der Preis ist eigentlich zu hoch«, sagt Jeronimo Voss, »andererseits ist das Kapitel, ob wir das Objekt überhaupt bekommen können, endlich abgeschlossen«. Nun gehe es darum, ziemlich schnell ziemlich viel Geld zu sammeln. Am 30. Juni soll der Kaufvertrag beim Notar unterzeichnet werden, wenig später muss die Projektgruppe bereits drei Millionen Euro zahlen.

Die neu gegründete GmbH kann von nun an Direktkredite in Empfang nehmen. Um die Kosten noch zu senken, will die Initiative den politischen Druck erhöhen: Der Magistrat könne die anstehenden Abgaben für Wege, Parkplätze, Schule und Kita – also für alles, was »soziale Infrastruktur« genannt wird – noch wesentlich verringern. Es geht der Projektgruppe um die Einlösung eines Versprechens: Mehr als etwa zehn Euro sollen die künftigen Bewohner des Philosophicums nicht an Kaltmiete je Quadratmeter zahlen. Das ist für die Frankfurter Innenstadt zwar vergleichsweise günstig, von richtig billigem Wohnen kann aber nicht die Rede sein. Die Initiative will sich beim Magistrat einsetzen, um an zinsgünstige Darlehen und Fördertöpfe zu kommen.
Das Philosophicum allein ist den Vorstellungen der Projektgruppe zufolge aber längst nicht genug für einen solidarischen Stadtteil. Sie will sich dafür engagieren, dass der Anteil des gemeinschaftlichen Wohnens und des sozialen Wohnungsbaus auf dem Campus deutlich erhöht wird, im Bebauungsplan sind bislang bloß 15 Prozent dafür vorgesehen. »Das steht in keinem Verhältnis zum Bedarf«, sagt Bennewitz. Mehr als 20 Initi­ativen haben sich bei der ABG Holding beworben. Unter ihnen ist auch der Förderverein Roma e. V., der auf dem Campus ein Wohnprojekt für Roma und Sinti nach dem Vorbild der Häuser in der Harzer Straße in Berlin etablieren wollte. Die Projektgruppe hätte sich solche Nachbarn auf jeden Fall gewünscht.
Von der ABG und der christdemokratischen Sozialdezernentin hieß es zu den Plänen aber ziemlich rasch, der Verein solle sich bloß keine Hoffnungen auf Subventionen machen. »Wir werden weiterhin unbequem bleiben, damit mehr Projekte gefördert werden«, sagt Voss. Auch aus Eigeninteresse. Schließlich wünscht er sich für das Philosophicum eine nette Nachbarschaft.