Nichts kommt aus dem Nichts
Als Helene Hegemanns Debütroman vor einigen Jahren ausgiebig diskutiert wurde, machte plötzlich der von Julia Kristeva geprägte Begriff der Intertextualität die Bekanntschaft einer größeren Öffentlichkeit außerhalb der Literaturwissenschaften. Was war geschehen? Nach anfänglichen Lobhudeleien hatte jemand festgestellt, dass Hegemann umfangreiche Textpassagen des Bloggers Airen unverändert und ohne jede Quellenangabe zweitverwertet hatte. War zunächst noch ihre vermeintliche juvenile Authentizität gefeiert worden, galt Hegemann nun vielen als böse Plagiatorin. Zu ihrer Verteidigung brachte sie vor, dass sie sich nur eines »intertextuellen« Stilmittels bedient habe. Als Reaktion verabschiedeten preisgekrönte Edelfedern um Günter Grass und Christa Wolf sogleich eine hochoffiziöse »Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums«.
Die Welt fragte daraufhin bei Julia Kristeva nach, was sie von dieser Chose halte und was es mit ihrem alten Konzept auf sich habe: »Intertextualität heißt, dass Texte nicht aus dem Nichts heraus entstehen, sondern den Einfluss all dessen widerspiegeln, was der Autor gelesen hat und was den ihn umgebenden Diskurs bestimmt.« Die Unterstellung, dass ihr Begriff als Einladung zum Plagiieren diene, weist sie in diesem Interview entschieden zurück: »Es hängt von der Quantität ab. Wenn jemand mehr als einen Satz oder ein Thema aufgreift und seitenweise Text entnimmt, ohne zuzugeben, dass es nicht der eigene ist, dann ist das keine Intertextualität.«
Tatsächlich entsprechen diese Aussagen im Wesentlichen dem, was sie mehr als 40 Jahre zuvor in ihren frühen Aufsätzen ersonnen hat, wobei speziell deren politischer, ideologiekritischer Impetus von ihren Verfechtern wie auch Verächtern bisweilen falsch verstanden oder ignoriert wird.
Als Julia Kristeva Ende 1965 mit einem Stipendium von Sofia nach Paris kam, stand der französische Strukturalismus in voller Blüte: Angelehnt an die Linguisten Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson hatten etwa Claude Lévi-Strauss in der Ethnographie, Jacques Lacan in der Psychoanalyse, Louis Althusser in der marxistischen Theorie und Roland Barthes in der Semiotik und Literaturwissenschaft die Sprache selbst und die mit ihr verbundenen Symbolsysteme in den Mittelpunkt der Kulturbetrachtung gestellt. Kristeva hatte sich zuvor bereits intensiv mit dem russischem Formalismus und den Schriften Michail Bachtins beschäftigt und fing nun an, bei Barthes zu studieren. Wenig später, mit Mitte 20, schrieb sie den Aufsatz »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, der bis heute zum Standardprogramm des literaturwissenschaftlichen Studiums gehört. Darin verknüpft sie Bachtins Aussagen zur Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit von Sprache in Literatur mit den französischen Debatten und entwickelt sie weiter zu ihrer Theorie der Intertextualität: »Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes (gemeint ist kein Einzeltext, sondern der umgebende Diskurs, Anm. d. A.). An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität.« Dies mag zunächst ein wenig beliebig oder deterministisch klingen, Kristeva zielt dabei jedoch ganz konkret auf die Analyse der Sinnzusammenhänge von Texten.
In dem weniger bekannten Aufsatz »Probleme der Textstrukturation« von 1968 erläutert sie in Anlehnung an den russischen Formalisten Pavel N. Medwedew die Rolle des Ideologems: »Wir nennen Ideologem die gemeinsame Funktion, die eine bestimmte Struktur (sagen wir, den Roman) mit anderen Strukturen (sagen wir, mit dem Diskurs der Wissenschaft) in einem intertextuellen Raum verknüpft. Man bestimmt das Ideologem eines Textes durch seine Bezüge zu anderen Texten.« Aus den intertextuellen Verweisen – ob formal oder inhaltlich, markiert oder unmarkiert als Zitat beziehungsweise Anspielung, von der Wortwahl bis zur Rhetorik – lasse sich also die Stoßrichtung des Textes, seine ideologische Position ablesen. Kristeva stellt sich damit kritisch in die Tradition des Materialismus, ohne diesen indes allzu deterministisch aufzufassen. Sie betont hingegen die notwendige Einbettung von Texten in den gesellschaftlichen Zusammenhang: »Das Ideologem ist die intertextuelle Funktion, die man auf verschiedenen Strukturebenen eines jeden Textes ›materialisiert‹ lesen kann, (…) wobei sie ihm seine geschichtlichen und gesellschaftlichen Koordinaten gibt.« Es geht ihr mit ihrem Ansatz also letztlich um Ideologiekritik. Dieses politische Moment wird in der Literaturwissenschaft – vor allem in Deutschland – meist herausgekürzt und Intertextualität des Öfteren nur als Modewort für Rezeptionsforschung zweckentfremdet.
Der von Kristeva formulierte Anspruch an Literaturanalyse und Kulturkritik passt hingegen auch zu dem politischen Programm, das sie als Teil der Avantgardegruppe Tel Quel verfolgte. Die Gruppe, die 1960 von Kristevas späterem Ehemann Philippe Sollers mitbegründet wurde, stand einerseits einer strukturalistischen und postmodernen Literaturästhetik und andererseits der Kommunistischen Partei Frankreichs nahe – ab 1971 wandte sie sich allerdings von deren Ostblockorientierung ab und stattdessen dem Maoismus zu. Bis 1982 veröffentlichte Tel Quel eine gleichnamige Literatur- und Theoriezeitschrift. Darin sind unter anderem einige prägende Beiträge des (Post-)Strukturalismus erschienen – so etwa von Jacques Derrida, Michel Foucault, Umberto Eco, Gérard Genette und wiederum Barthes. Dieser war auch Teil der fünfköpfigen Gruppe um Kristeva und Sollers, die 1974 nach China reiste, um sich, unter strenger Aufsicht der chinesischen Behörden, den Maoismus aus der Nähe anzusehen. Kristeva veröffentlichte direkt danach eines ihrer – hinsichtlich der Verkaufszahlen – erfolgreichsten Bücher, »Des Chinoises«, auf Deutsch: »Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China«.
Aus heutiger Sicht verblüfft der Erfolg, da sie auch in diesem Sachbuch nicht von ihrem assoziativen und recht voraussetzungsreichen Stil abweicht. In »Die Chinesin« zeigt sich weiterhin eine ausgeprägte Fürsprache gegenüber Mao und dem Maoismus. So betont Kristeva zum einen, durchaus fundiert, die emanzipatorischen Entwicklungen für die gesellschaftliche Stellung der Frau im Übergang vom konfuzianisch geprägten zum kommunistischen China. Zum anderen bekräftigt sie jedoch diverse gutgläubig anmutende Mao-Anekdoten. Beispielsweise wird dessen jugendlicher Abschied vom eigenen Elternhaus bereits in eine gesamtgesellschaftliche Kritik an Familienstrukturen eingebettet und ebenso anhand weiterer verklärender Lebensepisoden einem fragwürdigen Personenkult das Wort geredet.
Zwei Jahre später, im Herbst 1976, distanzierte sich Tel Quel geschlossen vom Maoismus. Barthes war schon während der Reise angewidert von den staatlichen Gängeleien, den Zuständen für die Bevölkerung und der verlogenen Propaganda, wie erst durch die posthume Veröffentlichung seiner Reisetagebücher bekannt wurde. Bei den anderen Mitgliedern von Tel Quel dauerte die kritische Aufarbeitung ein wenig länger. So oder so waren sie mit ihrer Kritik und Selbstkritik an Ideal und Wirklichkeit des Maoismus einige Jahre früher dran als manch linker Intellektueller in Deutschland. Hier standen die maoistischen K-Gruppen zum Ende der siebziger Jahre noch hoch im Kurs, wie man am Beispiel des späteren Taz-Redakteurs Christian Semler und seiner KPD/AO sehen kann. Jedoch, vergleichbar Semler, wechselten auch Kristeva und die zentralen Personen von Tel Quel anschließend nicht ins konservative Lager, wie dies ihre Zeitgenossen der Nouvelle Philosophie um André Glucksmann zum Teil taten.
Julia Kristeva hatte während der siebziger Jahre eine weitere persönliche und berufliche Entwicklung vollzogen. Sie wandte sich immer stärker der Psychoanalyse zu, nachdem sie zuvor bei Lacan studiert hatte. Seit 1979 praktiziert sie überdies als Analytikerin. Aus ihren Büchern zum Thema ragt der lange Essay über das Abjekte heraus, den sie 1980 veröffentlichte und der bis dato lediglich ins Englische, nicht aber ins Deutsche übersetzt wurde. Unter dem Titel »Pouvoirs de l’horreur« (Powers of Horror) entwirft Kristeva ein psychoanalytisches Paradigma, das die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, vor allem als die Grenze des eigenen Körpers in den Fokus rückt. Sie stellt fest, dass Ausscheidungen wie Schweiß oder Speichel und zugleich die Körperpartien, an denen diese Körperflüssigkeiten zutage treten, augenfällig mit einer Mischung aus Ekel und Lust verknüpft sind. Den Übergang zwischen dem Eigenen und dem Außen, an dem diese Körperfunktionen ablaufen, sowie die damit verbundenen grenzüberschreitenden Stoffe, zu denen Exkremente und Menstruationsblut, aber ebenso Haare und Hautschuppen gehören, beschreibt sie mit den Begriffen der Abjektion und des Abjekten.
Das einschneidende, mehr oder minder traumatische Erlebnis, das die besondere emotionale Bedeutung des Abjekten prägt, sei die Geburt, da der mit der Mutter verschmolzene Fötus im Moment seiner Verwandlung zum Neugeborenen erstmals die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt erfahre. Daraus leitet Kristeva ab, dass und inwiefern die Ablösung von der Mutter, freilich nicht nur bei der Geburt, eine deutlich größere Bedeutung in der Psychoanalyse einnehmen solle – vor allem da Freud in »Totem und Tabu« dem Weiblichen beziehungsweise der Mutter lediglich eine untergeordnete Rolle gegenüber der des Vaters eingeräumt habe: »Das Abjekt konfrontiert uns mit unseren frühesten Versuchen, uns von der mütterlichen Einheit zu befreien, sogar noch bevor wir, dank sprachlicher Autonomie, außerhalb ihrer existierten.«
Die Schriften Kristevas haben im Ausland bis heute eine stärkere Wirkung entfaltet als in Frankreich. Insbesondere wurde sie auch für Ansätze der identity politics an US-amerikanischen Universitäten als Stichwortgeberin herangezogen, da ihre Theorien oft um die Instabilität von Identität kreisen und sie zudem eine wichtige Vertreterin dessen ist, was in den USA als Dekonstruktivismus neu benannt und aufgegriffen wurde.
Kristeva hat sich dagegen mehrfach zu Wort gemeldet, um klarzustellen, dass sie kollektivistische Denkweisen hinsichtlich minoritärer Identitäten ablehne, da diesen ein gewisses »totalitäres« Element innewohne, und dass es ihr letztlich um die generelle Emanzipation von Individuen gehe: »Eine Gruppenidentität anzunehmen, ist eine Sackgasse. Und wenn manche das (neuere) französische Denken so interpretieren, dass sie dies tun sollten, liegen sie völlig falsch.« Außerdem sei die Distanz zu einer solchen Haltung ohnedies in ihren Texten zu erkennen, so dass sie schlechthin Wert darauf legt, Texte genau zu lesen selbst wenn und gerade weil man in diesen versteckte und subtile Verweise auf minderheitliche oder dissidente Aussagen entdecken und rekonstruieren kann – und sollte.