Die Protestbewegung in Thailand hat erste Erfolge erzielt

Protestieren und Tee trinken

Auf harte Repression gegen die Demokratie­bewegung ließ das autoritäre Regime Thailands Signale der Gesprächsbereitschaft folgen. Doch gleichzeitig mobilisiert es ­rechtsextreme Unterstützer der Monarchie.

Nach wochenlangen Protesten nahmen Schülerinnen, Schüler und Studieren­de den Jahrestag der Demokratiebewegung von 1973 zum Anlass, eine Großdemonstration für den Rücktritt von General Prayut Chan-o-cha, der nach einem Staatsstreich seit 2014 als Ministerpräsident amtiert, und für weitreichende Reformen zu organisieren. Die Proteste fanden am 14. Oktober im Zentrum der Hauptstadt Bangkok am Demokratiedenkmal statt, das die Revolution von 1932 würdigt, die die absolute Monarchie stürzte. Als das ­Königspaar in einer von der Polizei geschützten Autokolonne nahe an den Protestierenden vorbeifuhr – an sich schon eine Provokation an diesem Jahrestag –, spielten sich für thailändische Verhältnisse sehr ungewöhnliche Szenen ab. Anstatt unterwürfig den Monarchen zu huldigen, riefen die Zuschauer ihnen Kritisches zu, Protestierende zeigten sowohl den Dreifingergruß, entlehnt aus dem Film »Die Tribute von Panem« über die Rebellion gegen eine postapokalyptische Diktatur, als auch den Mittelfinger.

Die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit und die Verhaftungen riefen eine Reaktion hervor, die in diesem Ausmaß wohl einmalig in der Geschichte Thailands war. Vor allem junge Menschen ignorierten die Verbote und gingen weiter auf die Straße.

Die offen zur Schau gestellte Feindseligkeit gegen die Monarchie war vielleicht der Auslöser – vielleicht auch der geplante Vorwand – für die Ausrufung des Notstands in den frühen Morgenstunden des 19. Oktober. Proteste aller Art sowie Versammlungen von mehr als fünf Menschen wurden verboten. Auch Journalisten, die weiterhin über Demonstrationen berichteten, konnten wegen »Gefährdung der Sicherheit der Nation« belangt werden. Die Regierung ließ den populären und regimekritischen Sender Voice TV schließen, Kitti Pantapak, ein bekannter ­Reporter der Online-Zeitung Prachatai, wurde verhaftet. Auch die in Thailand populäre Nachrichtenapp Telegram wurde mit der Schließung bedroht.

Das Regime verstärkte die Repression. Führende Aktivistinnen und Aktivisten wie Ekachai Hongkangwan, Boonkueanoon Paothong, Parit »Penguin« Chiwarak, Panusaya Sithijirawattanakul, Natchanon Pirote und Jatuphat »Pai Dao Din« Boonpattararaksa wurden verhaftet. Die Anklagen, die auf Beleidigung des Königs und der Königin, Gefährdung der inneren Sicherheit oder Staatszersetzung lauten, können mehrere Jahre Haft zur Folge haben. Auch die Polizeigewalt gegen Demonstrierende wurde härter. Polizisten gingen mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern vor, das Wasser wurde mit Reizchemikalien und Farbe angereichert, um eine spätere Identifizierung zu ermöglichen.

Das Militärregime hatte offenbar erwartet, die Ausrufung des Notstands würde die Proteste eindämmen. Doch das Gegenteil war der Fall – die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit und die Verhaftungen riefen eine Reaktion hervor, die in diesem Ausmaß wohl einmalig in der Geschichte des Landes ist. Vor allem junge Menschen ignorierten die Verbote und gingen weiter auf die Straße, im vollen Bewusstsein, dass die Konsequenz eine längere Haftstrafe, Polizeigewalt oder gar ihr Tod sein könnte. Auch die Verhaftung führender Aktivisten und Aktivistinnen hatte nicht die erwünschte Wirkung. Das Regime hat möglicherweise seine ­eigenen hierarchischen Vorstellungen auf die Protestbe­wegung projiziert und angenommen, nach der Verhaftung der »Rädelsführer« wäre diese kopflos. Doch die Bewegung ist in zahllosen lokalen Gruppen organisiert, die lose vernetzt sind. Mit jeder Verhaftung traten neue Sprecher und Organisatorinnen hervor, die bis dahin unbekannt waren. Zu den drei Hauptforderungen – Rücktritt von General Prayut, Neuwahlen und eine neue Verfassung – und den zehn Forderungen zur Reform der Monarchie – unter anderem Abschaffung des Gesetzes gegen Majestätsbeleidigung, ein Ende der Verherrlichung der Königsfamilie und eine Kürzung der Apanage – kam jetzt eine noch dringlichere hinzu: die Freilassung der Gefangenen.

Die Bewegung versucht sich, so gut es geht, gegen die Polizeigewalt zu schützen. Das Vermummungsverbot ist wegen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt und Masken bieten einen gewissen Schutz gegen Tränengas. ­Beeindruckende Bilder zeigen, wie sich Schüler und Studierende organisieren, um Schutzhelme gegen die Schlagstöcke sowie Regenmäntel und ­-schirme gegen die Wasserwerfer zu verteilen.

Dass die Bilder von den Protesten in Thailand an die »Regenschirmbewegung« in Hongkong erinnern, ist kein Zufall. Unter dem Hashtag #Milk­TeaAlliance formiert sich seit April eine regionale Solidaritätsbewegung in Hongkong, Taiwan und Thailand, die sich sowohl für eine Demokratisierung der eigenen Gesellschaft einsetzt als auch gegen das autoritäre Regime Chinas richtet. Die #MilkTeaAlliance dient nicht nur dazu, im Hinblick auf die Taktik bei Demonstrationen voneinander zu lernen. Es geht auch darum, die jeweils eigene Demokratiebewegung in einen größeren Kontext zu stellen.

Aus dieser Sicht ist die Bewegung in Thailand kein Spezialfall, der mit nationalen Eigenheiten wie etwa der Monarchie zu erklären wäre. Stattdessen wird sie als Teil eines allgemeinen politischen Kampfs in Ostasien betrachtet. Zu diesem zählt die Sonnenblumenbewegung gegen ein Freihandelsabkommen mit China in Taiwan 2014, die Reformasi-Bewegung gegen das autoritäre Regime in Malaysia von 2008 bis 2018, die Kerzenlichtbewegung in Südkorea gegen die Tochter des Diktators Park 2016 / 2017 und auch der jüngste Massenprotest gegen das »Omnibusgesetz« in Indonesien. Diese ­Bewegungen kombinieren in unterschiedlicher Weise eine Rebellion gegen wachsende soziale Entrechtung und Armut – die durch die Maßnahmen gegen die Pandemie noch verschärft werden – mit Forderungen nach einer grundlegenden Demokratisierung der Gesellschaft.

Interessant wird daher sein, welche Wirkung die Rebellion in Thailand auf die gesamte Region, inklusive China, haben wird. In Thailand gingen intensive Diskussionen über die Mo­narchie in den sozialen Medien, unter anderem der populären satirischen Facebook-Gruppe »Royalist Marketplace« des Dissidenten Pavin Chachavalpongpun, den radikalen Forder­ungen der heutigen Bewegung voraus. Dort zeigt sich, wie Phasen relativer Ruhe, in der im Internet debattiert wird, von Phasen aktiver Militanz auf der Straße abgelöst werden. Dabei spielt die Jugendkultur in den sozialen Medien eine entscheidende Rolle. Die #MilkTeaAlliance entstand unter anderem, weil eine thailändische Fernsehserie bei der chinesischen Jugend populär ist und ein Retweet eines Schauspielers dieser Serie über Hongkong, der als Unterstützung für die Unabhängigkeit der Stadt gedeutet werden konnte, von nationalistischen chinesischen Trolls aufgegriffen wurde. Aktivistinnen und Aktivisten nutzten dann alltägliche Kulturmerkmale wie die Gewohnheit, Tee mit Milch zu trinken, um politische Botschaften zu verbreiten.

Mit ihrer Entschlossenheit hat die thailändische Protestbewegung erste Erfolge erzielt. Die Repression verpuffte angesichts der massenhaften Gegenwehr. Voice TV sendete weiter – und die angeordnete Schließung annullierte ein Gericht mit Hinweis auf die in der Verfassung verbriefte Meinungsfreiheit. Die meisten Verhafteten sind wieder auf freiem Fuß. Am 22. Oktober, nach nur drei Tagen, nahm Prayuth das Notstandsgesetz wieder zurück. Er signalisiert nun Gesprächsbereitschaft – doch Vorsicht ist ­geboten.

Zwei Entwicklungen deuten da­rauf hin, dass Monarchie und Militär eine gewaltsame Unterdrückung der Bewegung vorbereiten könnten. Zum einen wurde jüngst die Führungsriege des Militärs abgelöst und von Angehörigen der »red rim«-Fraktion ersetzt (benannt nach dem roten Saum ihrer T-Shirts unter der Dienstkleidung). Diese Clique in der Armee ist König Vajiralongkorn treu ergeben und mit der abwartenden und schwankenden Haltung Prayuts unzufrieden ist. Zum anderen hofiert der König derzeit öffentlich ultramonarchistische und rechtsextreme Kräfte. Regierungsstellen organisieren monarchistische Gegendemonstrationen, vielleicht auch, um sich eine ideologische Rechtfertigung für die Niederschlagung der Proteste zu verschaffen. Die Demokratiebewegung Thailands muss damit rechnen, dass dem derzeitigen Zurückweichen des Regimes eine noch härtere Welle der Repression folgt.