Ein Gespräch mit dem Politologen Ireneusz Paweł Karolewski über die Entdemokratisierung in Polen

»Eine neue Version des Autoritarismus«

Die polnische Regierung bringt systematisch die Gerichte unter ihre Kontrolle und Medien auf Linie. Damit hat sie einen Konflikt mit der EU provoziert, doch westeuropäische Wirtschaftsinteressen sehen sie weiterhin als guten Partner.
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Warum sucht die polnische Regierung den Konflikt mit der EU?

Polen imitiert seit 2015 die antidemokratischen Veränderungen in Ungarn. Unabhängige Staatsorgane sollen von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrolliert werden, etwa das Verfassungsgericht. Die pol­nische Regierung hat den Konflikt mit der EU eskalieren lassen, weil sie glaubt, dass die EU, wie gegenüber Ungarn, wenig unternehmen kann.

Was könnte die EU denn tun?

Sie könnte den Artikel 7 des EU-Vertrages anwenden, der besagt, dass einem Land, dass demokratische Werte verletzt, seine Stimme im Ministerrat entzogen werden kann. Allerdings muss das einstimmig beschlossen werden. Dagegen ist Polen durch Ungarn geschützt, oder durch Slowenien.

»Ein EU-Austritt wäre nicht nur für Polen verheerend, sondern würde auch vielen Unternehmen in Westeuropa schaden.«

Könnte die EU nicht Finanzmittel für Polen kürzen?

Die polnische Regierung scheint jedenfalls überzeugt, dass die EU das nicht tun wird. Mitte Oktober hat der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft ge­fordert, die Gelder aus dem Corona-Rettungsfonds für Polen und Ungarn freizugeben, weil sonst auch deutsche Firmen geschädigt würden. Es geht um die Finanzierung öffentlicher Aufträge, die ja auch an ausländische Firmen gehen.

Wie legitimiert die Regierung das Vorgehen gegen die Justiz?

Seit Jahren spricht sie von der Notwendigkeit, das Justizwesen zu reformieren. Tatsächlich arbeiteten die Gerichte langsam und ineffizient. Das wurde zum Vorwand genommen, um unabhängige Richter loszuwerden und ­loyale einzusetzen. Derzeit laufen etwa 200 Disziplinarverfahren gegen Richterinnen und Richter. Heute sind die Gerichtsverhandlungen noch länger, die Gerichte noch inkompetenter. Das Verfassungsgericht ist spätestens 2016 zu einem Arm der Regierungspartei geworden.

Wie weitet die Regierung noch ihre Macht aus?

Neben der Justiz werden auch die Medien umstrukturiert. Die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender wurden zu einem Propagandainstrument gemacht. Sie versuchen nicht einmal, den Anschein von Objektivität zu wahren, sondern betreiben krude Propaganda und greifen Oppositions­politiker persönlich an. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Oberbürgermeister von Gdańsk, Paweł Adamowicz, auf den 2019 ein Attentat verübt wurde, nachdem er im Staatsfernsehen dämonisiert worden war.

Wie übt die Regierung Kontrolle über die Medien aus?

Es geht auch um Zeitungen in privater Hand, die durch den Staat alimentiert werden, etwa mit Anzeigen. Einige gehören auch Konzernen, die ihrerseits im Staatsbesitz sind. Vor einem Jahr etwa kaufte der größte Energiekonzern Polens, Orlen, etwa 500 Regional- und Lokalzeitungen sowie Internetportale von der deutschen Verlagsgruppe Passau. Auch hier ist Ungarn das Vorbild, wo die Regierung fast alle Medien kontrolliert.

Wofür nutzt die Regierung ihre Kontrolle über die Medien?

Nach den US-Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr haben die Staatsmedien sehr lange das Narrativ verbreitet, die Wahlen seien gefälscht gewesen. Das entspricht der polnischen Außenpolitik, die sehr auf Donald Trump fixiert war. Es legte aber auch nahe, dass so eine Anzweiflung von demokratischen Wahlergebnissen auch in Polen passieren könnte. Wahlfälschungen wie in Russland oder Belarus gab es bisher nicht, obwohl es bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr zu zahlreichen Beschwerden über Unregelmäßigkeiten kam. Die ­Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte unter anderem, dass die Kandidaten keinen ­gleichen Zugang zu den Medien hatten.

Ist Polen also keine Demokratie mehr?

Dass diese Regierung immer noch Wahlen zulässt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer neuen Version des Autoritarismus zu tun haben. Denn die Demokratie zwischen den Wahlen ist defizitär, die Rechtsstaatlichkeit wird systematisch verletzt. Wir nennen das in unserem Buch ­»Demokratur«.

Sie benutzen auch den Begriff »Doppelstaat« für das Rechtssystem in Polen. Was bedeutet das?

Der Begriff des Doppelstaates stammt von Ernst Fraenkel, der während des Zweiten Weltkriegs im US-Exil den frühen Nationalsozialismus so charakterisierte: Es gebe einerseits den Normenstaat, wo Gerichte und Gesetze noch funktionieren, und den Maßnahmenstaat, den autoritären Staat, in dem Institutionen der politischen Kontrolle unterliegen. Den totalitären Charakter des Nationalsozialismus erfasst das nicht. Aber wir benutzen den Begriff des Doppelstaates, um die Demokra­turen von heute zu analysieren. Es gibt in ihnen eine Zweiteilung des Rechts: Viele Bereiche, Verkehrsdelikte, Arbeitsrecht oder Ähnliches, werden nach wie vor von unpolitischen Gerichten verhandelt. Aber zugleich gibt es den Maßnahmenstaat, vor allem im Verfassungsbereich, im Polizeirecht, bei den Sicherheitsbehörden, wo die politische Autorität über dem Recht steht.

Wie wirkt sich das auf die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft aus?

Auch in der Wirtschaft gibt es eine Doppelung: Es gibt eine Marktwirtschaft, aber auch staatliche oder quasistaatliche Firmen, an deren Ressourcen sich die herrschende Elite bedienen kann. Das heißt zum Beispiel, dass die Vorsitzenden eines staatlichen Energieunternehmens eingesetzt werden, weil sie bereitwillig Entscheidungen der Partei ausführen, etwa den Wahlkampf unterstützen oder Organisationen finanzieren, die der Regierung nahestehen. Und zugleich erlaubt man dem Management, aber auch Parteimitgliedern und ihren Verwandten, sich an der Firma zu bereichern. Durch solche Bereicherung macht man wiederum Personen von der Regierung abhängig, ebenso wie auf diesem Weg finanzierte Organisationen, die eine Art staatstreue Quasizivilgesellschaft bilden.

Wir benutzen dafür den Begriff »politischer Kapitalismus«, in Anlehnung an Max Weber, aber auch den Ökonomen Branko Milanović, der etwa China so bezeichnet. Unternehmen gelten der Regierung als Quelle der persönlichen Bereicherung und der politischen Macht. Gleichzeitig ist es für die polnische Regierung sehr wichtig, attraktiv für Investoren zu sein, damit die Kapitalflüsse aus dem Ausland weitergehen.

Wie legitimiert sich dieser politische Kapitalismus gegenüber der Bevölkerung?

Das Wirtschaftswachstum ist für die Legitimität entscheidend. Hinzu kommt die Sozialpolitik, die allerdings oft oberflächlich bleibt. Medienwirksam wird auf die Erhöhung des Kinder­geldes oder der Renten verwiesen, doch gleichzeitig wird in vielen Bereiche der öffentlichen Hand gespart, etwa im Gesundheitswesen, wo die Bevölkerung immer mehr Kosten selbst tragen muss.

Polen und Ungarn schaffen für ausländische Firmen sehr günstige Bedingungen, etwa mit einer sehr niedrigen Körperschaftssteuer. Die Produktionskosten sind günstig, die Arbeitskräfte gut ausgebildet, was besonders die Automobilindustrie anzieht. Dieses Kapital gleicht aus, was die oft extraktiv geführten ­Unternehmen in staatlicher Hand nicht leisten können. Diese Unternehmen sind nicht sehr effizient und im Ausland auch nicht konkurrenzfähig.

Erklärt sich dadurch die große Bedeutung Polens und Ungarns für die EU?

Polen und Ungarn sind wirtschaftlich eng mit Westeuropa verbunden. 28 Prozent aller polnischen Exporte gehen nach Deutschland, für Deutschland war Polen 2020 die viertwichtigste Quelle von Importen. Ein EU-Austritt wäre also nicht nur für Polen ver­heerend, sondern würde auch vielen Unternehmen in Westeuropa schaden.

So erkläre ich mir auch die Äußerungen der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel von Mitte Oktober, man müsse im Konflikt um die polnischen Justizreformen nach Kompromissen suchen. Sie sagte das, kurz nachdem der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft vor einer Diskussion über einen möglichen EU-Austritt von Polen oder Ungarn gewarnt hatte, weil beide ­Länder zu wichtig für die deutsche Wirtschaft seien.

Ende Oktober kündigte die polnische Regierung an, die Personalstärke der Armee auf 250 000 Soldaten zu erhöhen, also fast zu verdoppeln. Was sind die Gründe dafür?

Noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Viele sagen, es gebe kein Geld dafür. Das ist sicher auch eine propagandistische Ankündigung und Ausdruck einer gewissen außenpolitischen Hilflosigkeit. Polen ist zunehmend isoliert. Mit der EU gibt es Konflikte, aber auch mit Nachbarländern wie Tschechien und natürlich mit Deutschland. Das Verhältnis zu den USA ist seit Trumps Abwahl getrübt. Ich denke, diese Geste mit der Armee soll zeigen: Wir schaffen es auch alleine. Das wird oft mit einem geschichtlichen Diskurs verbunden, in dem es heißt: Auf unsere Verbündeten war sowieso kein Verlass, auch schon in der Zwischenkriegszeit oder bei der deutschen Invasion 1939.

Was sind die Gründe dieser internationalen Isolation?

Die polnische Außenpolitik wird sehr amateurhaft betrieben, sie ist im Grunde Ausdruck der Innenpolitik. Die Regierung vertraut den Diplomaten nicht, die Rolle des Außenministeriums ist seit 2015 stark geschwächt, wichtige Ämter wurden parteiloyal besetzt. Das ist beunruhigend, denn andere Länder können nicht mehr davon ausgehen, dass sie in Polen Partner haben, mit denen sie auch unterschiedliche Interessen aushandeln können. Es fehlt eine gemeinsame Sprache und das für Diplomatie nötige Vertrauen.

Aber ist Polen nicht fest in der Nato verankert und hat traditionell gute Beziehungen zu den USA?

Das war immer der Konsens, auch noch, solange Trump an der Macht war. Aber eine Bedingung dafür war, dass Trump Polen nie kritisiert hat – er hat ja selbst versucht, in den USA die Rechtsstaatlichkeit anzugreifen.

Wird die Entwicklung in Polen in Deutschland ernst genug genommen?

Viele haben zu spät gesehen, dass es in Osteuropa auch nach dem EU-Betritt kein Ende der Geschichte gab, dass Demokratie reversibel ist. Immer noch gibt es auch Stimmen, die sagen, solange es in Polen noch Wahlen gibt, sei das kein autoritärer Staat. Damit verkennt man aber, wie brenzlig die Lage bereits ist. Und zwar auch, weil Demokraturen sich in Europa ausbreiten, beispielsweise in Slowenien oder auf dem Balkan.

 

Ireneusz Paweł Karolewski ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig, zuvor lehrte er an der Universität Wrocław sowie an der Universität Potsdam. Im September veröffentlichte er gemeinsam mit Claus Leggewie das Buch »Die Visegrád-Connection – Eine Herausforderung für ­Europa« über autokratische und oligarchische Entwicklungen in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei.