In Finnland protestieren auch viele Linke gegen den Krieg in der Ukraine und distanzieren sich von Russland

Schwierige Nachbarschaft

In Finnland haben Diskussionen über eine Nato-Mitgliedschaft des Landes aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder an Schwung gewonnen. Für Russinnen und Russen in Finnland ist die Situation problematisch. Die finnische Linke ist von Russlands Invasion wenig überrascht.
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Wie Pinguine watscheln die Demons­trie­renden vorsichtig auf der Helsinkier Prachtpromenade Esplanadi zum Kundgebungsort. Plustemperaturen und Sonnenschein tagsüber und grimmige minus sechs Grad Celsius in der Nacht formen immer neue Eisschichten über dem gestreuten Kies. Einige Demons­trierende rutschen auf dem Weg zur Kundgebung aus, helfende Arme recken sich den Gestürzten entgegen. Es herrscht eine fast trügerische Einigkeit unter den über 10 000 Demonstrie­renden an diesem Samstagnachmittag Ende Februar in Finnlands Hauptstadt.

Eisbedeckte Straßen in Helsinki

Erschwert das Demonstrieren: Eisbedeckte Straßen in Helsinki

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Robert Stark

Zu der Demonstration, die vor der russischen Botschaft endet, haben alle Jugendorganisationen der im finnischen Parlament Eduskunta vertretenen Parteien aufgerufen. So stand auf der Kundgebung neben der Linksjugend oder der Jugendorganisation der RKP, die die schwedischsprachige Minderheit vertritt, auch der Nachwuchs der rechtsnationalistischen Partei Wahre Finnen (Perussuomalaiset). Zu sehen sind unzählige ukrainische Fahnen, Plakate und Banner auf Russisch, Finnisch und Englisch; auf einigen wird der Beitritt Finnlands zur Nato gefordert. Auch die offenbar unvermeidlichen »Putler«-Darstellungen, Porträts des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit zwei Finger breitem Hitlerbart, sind dutzendfach zu sehen.

»Es ist nicht unser Krieg, die Russen sind nicht für den Krieg, haben aber keine Chance, auf die Regierung einzuwirken.« Olga Ryzhok, russische Designerin

Die Route der Demonstration führt vorbei am Obelisken  Keisarinnankivi, der an den ersten Besuch der russischen Zarin Alexandra Fjodorowna (vormals Charlotte von Preußen) in Helsinki im Jahr 1833 erinnern soll. Bei einem Spaziergang durch die Innenstadt von Helsinki lassen sich Statuen von Zar Alexander II., orthodoxe Kirchen und andere Reminiszenzen an Finnlands histo­rische Zugehörigkeit zum russischen Zarenreich nicht übersehen. Umso lauter scheint die immergleiche Parole aus den Reihen der Demonstration zu schallen: »Venäjä ulos! Putin alas!« (Russland raus! Nieder mit Putin!)

Die Reaktion finnischer Medien auf den Krieg, Posts in den sozialen Medien und Unterhaltungen mit Finninnen und Finnen machen klar: Auch Erinnerungen an den finnisch-sowjetischen Winterkrieg von 1939/1940 hallen als Echo wider. Die Ukraine hat im Verteidigungskampf gegen das aggressiv auftretende, imperialistische und militärisch deutlich überlegene Russland volle Sympathie in Finnland. Auch wenn in den Gesprächen mit den Demonstrierenden in Helsinki Schock oder Betroffenheit deutlich werden, scheint man von Putins Angriffskrieg nicht wirklich überrascht zu sein.

Zwischen Russland und Ukraine
Mikko K., Arzt an der Universitätsklinik, kommt vor der Nachtschicht noch mit seiner Partnerin zur Demonstration. »Ich weiß, wie Menschen mit Schussverletzungen aussehen, ich weiß, wie es ist, wenn Menschen leiden und sterben. Deswegen bin ich hier«, so der Mittvierziger. Seine wachen Augen hinter der kleinen, runden Brille huschen hin und her: »Wir haben so viele russische Kolleginnen und Kollegen in der Klinik, es sind die besten Leute. Sie haben mir geholfen, mein Plakat auf Russisch zu beschreiben. Einige meiner Vorfahren sind im Winterkrieg gestorben, aber wir sind daran gewöhnt, dass Russland immer nahe war. Ich fühle mich gerade nicht als Finne besonders bedroht, sondern als Europäer.«

Der Arzt Mikko K.

Fühlt sich als Europäer bedroht: Der Arzt Mikko K.

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Robert Stark

Auch die Vorsitzende der Linksjugend (Vasemmistonuoret), Pinja Vuorinen, beteiligt sich an der Demonstra­tion. Obgleich bekennende Kommunistin, hat sie nach dem Abitur einen freiwilligen Wehrdienst als Reserveoffizierin abgeschlossen. Die 25jährige ist nicht überrascht über die Frage, ob sie Finnland in einer ähnlichen Situation verteidigen würde. »Ich mache mir jetzt zuerst Sorgen um die Ukrainerinnen und Ukrainer und sehe nicht, dass Finnland die gleiche Gefahr droht. Aber ja, ich wäre bereit, diese Gesellschaft und diese Grenzen mit der Waffe zu verteidigen«, sagt sie. Vasemmistonuoret ist einer der größten politischen Jugendverbände in Finnland und hat über 3 300 Mitglieder. »Ich weiß, dass manche unserer Aktiven und ihre Freundinnen und Freunde in den letzten Tagen bereits antirussischen Rassismus beziehungsweise Russophobie ­erfahren haben«, sagt Vuorinen im Gespräch mit der Jungle World.

Die beiden Studenten Timmi aus Sankt Petersburg und Artemij aus Moskau haben über Chats von einem Übergriff auf eine Russisch sprechende Frau in einem Supermarkt in Helsinki gehört. Viel mehr als antirussische Übergriffe fürchten die beiden aber eine Abschiebung nach Russland. »Wir sind hierhergekommen, um zu bleiben, in Putins Russland können wir einfach nicht mehr sein«, so Artemij. Die beiden Mittzwanziger sprechen gefasst in flottem Englisch über Putins Politik. »Wir sind nicht überrascht vom Krieg – in der Ukraine ist seit acht Jahren Krieg. Ich liebe meine ukrainischen Freunde, die ukrainische Kultur und Sprache, aber in Russland könnte ich das gerade nicht laut sagen«, sagt Timmi.

Die russischen Studenten Timmi und Artemiy kritisieren Putin

Die russischen Studenten Timmi und Artemiy kritisieren Putin

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Eine Frau Anfang 40, die mit den beiden jungen Männern Russisch spricht, unterbricht das Gespräch: »Ich bin finnische Feministin, aber auch Männerrechtlerin, wenn es um Russland geht.« Mit energischen Gesten unterstreicht sie ihre Theorie über die russischen Gesellschaft: »Es ist ein Männer-Frauen-Gefälle! Die Männer werden in der russischen Armee geschliffen, in Kriegen verheizt, saufen sich zu Tode oder begehen Suizid. Übrig bleiben alleinerziehende Mütter mit Söhnen, die eine starke Über-Vaterfigur ­suchen – Putin gibt ihnen das.« Sie sorge sich ebenso um die russischen und russischsprachigen Einwohner Finnlands: »Wir müssen jetzt Aufklärung betreiben, damit die Kinder russischsprachiger Eltern in den Schulen nicht leiden müssen.

Die Nato winkt
Einer EU-Studie von 2012 zufolge gaben damals 27 Prozent der befragten Russinnen und Russen in Finnland an, in den vorangegangenen zwölf Monaten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert worden zu sein, weit über dem EU-Durchschnitt. In dem Land mit 5,5 Millionen Einwohnern leben un­gefähr 90 000 Russinnen und Russen. Diese sehen sich online bereits heftigen Verunglimpfungen ausgesetzt.

Timo Haapala, Politikredakteur des größten Boulevardblatts des Landes, Ilta-Sanomat, ließ sich auf Twitter in ­einem vermutlich alkoholinduzierten Schreibwahn zu Kurztexten hinreißen, die an der Grenze zur Volksverhetzung kratzen. Haapala zufolge solle man alle Russen für das Handeln Putins verantwortlich machen, damit Russland endlich lerne. Alle Russen seien schuldig und Finnland sollte von Russen ­gesäubert werden, »damit Putin aufwacht«. Tags darauf erschien in dem Blatt ein Leitartikel, in dem es hieß, Russen seien nicht für die Handlungen ­Putins verantwortlich.

Die 31jährige Designerin Olga Ryzhok hofft auf Verständnis in Finnland für die Menschen, die unter dem autokratischen Regime Putins leben: »Es ist nicht unser Krieg, die Russen sind nicht für den Krieg, haben aber keine Chance, auf die Regierung einzuwirken. Ich kenne in Russland vielleicht zwei, drei Personen, die den Angriffskrieg irgendwie rechtfertigen.« Ryzhok sieht sich in einer komplexen Lage: »Ich identifiziere mich als russisch, habe die russische Staatsbürgerschaft, mein Vater und mein Nachname sind ukrainisch und die meisten meiner Verwandten leben in der Ukraine. Vielen Leuten geht es ähnlich.«

"Schnell in die Nato" fordern viele Protestierende

Schnell in die Nato! Das fordern viele Protestierende

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Der politische Referent der Partei Linksbündnis (Vasemmistoliitto), Henrik Jaakkola, erläutert im Gespräch mit der Jungle World, wie finnische Linke zu Russland stehen: »In Finnland wirkt eine andere Interpretation als bei vielen europäischen Linken. Putins Agieren wird schon länger als imperialistisch verstanden, Russland als ein kapitalistischer Staat. Viele Linke in Europa sind im Denken des Kalten Kriegs stehengeblieben und haben ihr Verständnis nicht an das 21. Jahrhundert angepasst.« Der 32jährige ehemalige Generalsekretär der Linksjugend ist für seine Twitter-Schlachten mit Neoliberalen und Rechtspopulisten bekannt. »Ich bin stolz, dass in Finnland so viele Menschen für die Ukraine auf die Straße gehen. Die Position der Linken ist es nun, der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den Angriff beizustehen«, betont Jaakkola. Auf die Frage, was er von der nun unvermeidlich gewordenen Beitrittsdiskussion halte, meint er: »Die Nato-Beitrittsdiskussion wird jetzt ­wieder heißlaufen, aber es gibt auch viele zurückhaltende Stimmen. Es ist jetzt nicht die Zeit für überhas­tete Entscheidungen, und am Ende sehen das viele Finnen ähnlich.«

Es ist fraglich, ob er sich mit dieser Einschätzung nicht irrt. In der jüngsten Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders Yleis­radio, die zu Beginn des Kriegs durchgeführt wurde, befürworteten 53 Prozent der Befragten eine Nato-Mitgliedschaft Finnlands, so viele wie nie zuvor. Mittlerweile sind in allen Fraktionen des ­finnischen Parlaments Nato-Beitrittsbefürworter zu finden.

Ende der »Finnlandisierung«
Finnland war im Kalten Krieg blockfrei, soziokulturell und ökonomisch stark mit Westeuropa und vor allem Schweden verbunden, aber bis 1992 durch den finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag der UdSSR verpflichtet. Der Vertrag sah explizit vor, dass Finnland auch von Westen kommende Angreifer für die Sowjetunion bekämpfen müsse. Der damit einhergehende russische Einfluss auf die Innenpolitik und die besonders vorsichtige Politik des nordischen Staats gegenüber seinem großen Nachbarn führte dazu, dass »Finnlandisierung« zu einem Schimpfwort in der westdeutschen Po­litik wurde. Bis zu 20 Prozent des finnischen Handelsvolumens machte der Handel mit der Sowjetunion aus, deren Zerfall führte mit zur schlimmsten Wirtschaftskrise der finnischen Geschichte.

Welche Auswirkungen die jetzige Abkopplung Russlands von den Märkten der EU auf die finnische Wirtschaft haben wird, ist noch nicht absehbar. Finnland gehört zusammen mit Litauen zu den am meisten vom Handel mit Russland abhängigen Nationalökonomien in der EU, doch das Handelsvo­lumen mit den anderen EU-Staaten oder den USA übersteigt das mit Russland um ein Vielfaches. Bereits in den ersten Tagen der russischen Invasion in der Ukraine war in Finnland eine gewisse Abwendung von Russland spürbar. So hat der in Helsinki beheimatete Eishockeyverein Jokerit die Saison in der russischen Kontinentalen Hockeyliga (KHL) vorzeitig beendet. Der etwas kryptischen Pressemitteilung zufolge sei eine Fortführung der Saison in dieser »bedauerlichen Weltlage« unmöglich. Jokerit und Dinamo Riga, das sich nun ebenfalls aus der KHL zurückgezogen hat, waren die einzigen beiden ­Eishockeyvereine aus EU-Staaten, die in der lukrativen höchsten russischen Spielklasse spielten.

»Einige meiner Vorfahren sind im Winterkrieg gestorben, aber wir sind daran gewöhnt, dass Russland immer nahe war. Ich fühle mich gerade nicht als Finne besonders bedroht, sondern als Europäer.« Mikko K., Demonstrant

Die Fluggesellschaft Finnair, deren Hauptaktionär der finnische Staat ist, erwartet durch die Überflugverbote über Russland große Einnahmeverluste. Finnair hat sich insbesondere auf Langstreckenflüge nach Asien spezialisiert; diese nehmen ausnahmslos die nördliche Route über Sibirien und werden absolut unrentabel, wenn dieser Weg versperrt ist.

Wie sich die finnisch-russischen Beziehungen nun entwickeln, ist unklar. Dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö von der konservativen Sammlungspartei Kokoomus wurde bislang ein pragmatischer Umgang mit Russland und ein professionelles Verhältnis zu Putin nachgesagt. Dem linken Politiker Jaakkola zufolge agierte er in der Außen- und Sicherheitspolitik besonnen: »Niinistö betont Gelassenheit und das Vertrauen, dass unsere Landes­verteidigung einer Krisensituation gewachsen ist.«

Auf dem Senatsplatz in Helsinki endet eine zweite, gleichzeitig stattfindende Demonstration mit Dutzenden Menschen, die von ukrainischen Exilgruppen organisiert wurde. Den dort Demonstrierenden wird dieser Pragmatismus kaum mehr reichen. Es sind viele ernste und traurige Gesichter zu sehen, wütende und entschlossene Parolen zu hören. Eine estnische Fahne weht neben Dutzenden ukrainischen. Neugierige betrachten die Ansammlung von den aufgehäuften Schneehügelchen aus.

Das 1983 errichtete Monument zum 35. Jubiläum des finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags

Schneebedeckt und längst Geschichte. Das 1983 errichtete Monument zum 35. Jubiläum des finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags

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Robert Stark

Spaziert man vom Senatsplatz zur Metrostation Universität Helsinki und fährt gen Osten, ist man in weniger als 15 Minuten an der Station Itäkeskus. Dort, im migrantisch geprägten Osthelsinki, liegt einen Steinwurf entfernt von der Metrostation der Freundschaftspark. In diesem steht unter einer dicken Schicht Eisschnee bedeckt ein fast vergessenes Monument. 1983 errichtet, erinnert das Denkmal an das 35. Jubiläum des finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags. Nach der Errichtung wurde ein zweiter Guss der Stadt Moskau geschenkt. Unter der Gruppe von Freunden und Dorfbewohnern, versammelt um ein frisch geborenes Kind, steht auf dem Sockel: »Monumentum amicitiae populorum« – Monument der Völkerfreundschaft.