Das neue Album des britischen Rappers Loyle Carner

Fahrstunden mit Vater

Loyle Carner hat mehr zu bieten, als sein Ruf als britischer Vorzeigerapper vermuten lässt. Auf seinem neuen Album »Hugo« berichtet er über Männlichkeit, Vaterschaft und Rassismus.

Vor pastellfarbenen Wänden steht ein schmächtiger Mann und wirbelt abwesend den Schneebesen. Die Farbe seines kurzärmeligen Hemds korrespondiert mit den violett blühenden Blumen auf der Küchenleiste. Er rappt zu einem verträumten Beat von seiner Schwester, die nie zur Welt kam. Währenddessen bleibt sein Kopf gesenkt, denn der Blick ist auf die Pfannkuchen gerichtet, die er ihr versprochen hat und gerade zubereitet. Mit diesem intimen Song mit dem Titel »Florence«, im dazugehörigen Video im Setting einer Kochshow vorgetragen, erreichte Loyle Carner vor sieben Jahren zum ersten Mal ein internationales Publikum.

Kurze Zeit später trat er erstmals in Berlin auf. Nachdem er sichtlich berührt vom Andrang seine Songs performt hatte, stand er im Trikot des Fußballspielers Éric Cantona, der der Lieblingsspieler seines verstorbenen Stiefvaters war, am Merchandising-Stand und lud seine Fans auf ­einen Whisky ein.

Vorangegangen sind dem Album Jam-Sessions, die Loyle Carner genug Gelegenheit zum Experimentieren boten und deren Ergebnisse seine Texte gleichsam geschliffener und intuitiver wirken lassen.

Diese unprätentiöse Gelassenheit in Kombination mit seinen reflektierten Texten und den warmen, dahinschwelgenden Beats haben ihn zu einem der sympathischsten Rapper Großbritanniens gemacht. Dabei wurde er lange Zeit missverstanden als der Vorzeigerapper, dessen Alben die perfekte Hintergrundmusik für einen Herbstspaziergang oder den Frühstückstisch seien. Das verleitete einige dazu, ihn als Gegenentwurf zu UK Drill und Grime zu instrumentalisieren, Subgenres, deren schonungslose Texte seit einiger Zeit die Finger in die Wunden der Dominanzgesellschaft legen. Der Einhegungsversuch folgt dem Schema, dass da endlich mal jemand sei, der nicht so aggressiv rappt und im Video maskiert mit Waffen herumhantiert, sondern von seiner Familie erzählt.

Bereits der Titel von Carners Album »Not Waving, but Drowning« von 2019 implizierte, dass er mit diesem Image nicht einverstanden ist. Zwar haftet der homogenen, warmen Boom-bap-Stimmung seiner bisherigen Alben zweifelsfrei etwas Indifferentes an, jedoch erzählen seine Texte schon länger von offenen Wunden. Das Ende des Videos zu »Florence« zeigt seine imaginierte Schwester, die auf den Fernseher starrt und ihm beim Kochen zuschaut. Ihre Haut ist ein wenig dunkler als seine, und das ist in diesem Szenario keine Nebensächlichkeit, denn die Auseinandersetzung mit seiner Identität als schwarzer Mann konnte in der Familie von Benjamin Coyle-Larner (so sein bürgerlicher Name) niemand wirklich nachempfinden. Er wuchs bei seiner Mutter Jean, seinem Stiefvater Nik und seinem kleinen Stiefbruder Ryan auf, die allesamt weiß sind. Sein Vater, der als Kind aus Guayana nach England gekommen war, hatte die Familie früh verlassen.

Schon auf seiner zweiten Single »Tierney Terrace« von 2015, die er nach dem Tod seines Stiefvaters und einem zufälligen Treffen mit seinem leiblichen Vater schrieb, rappt Carner: »All I wanted was a fucking man«, und auch in »The Isle of Arran«, dem Opener seines Debütalbums »Yesterday’s Gone« (2017), findet sich die Zeile: »I wonder why my dad didn’t want me.« Diese Enttäuschung bildet den Ausgangspunkt von »Hugo«, seinem kürzlich erschienenen dritten Album. Statt in einer weiträumigen Küche reflektiert Loyle Carner nun in einem Kleinwagen das Verhältnis zu seinem Vater. Während der Covid-19-Pandemie gab dieser ihm Fahrstunden in seinem Auto, das aufgrund des Kennzeichens mit den Lettern »HGU« von allen »Hugo« genannt wird. Von Blech umschlossen kamen vergrabene Emotionen ans Tageslicht.

Dumpf zitternde Drums werden mehrfach abgebremst, bevor er das Album mit der Ansage »Let me tell you what I hate« eröffnet und die Wut im Bauch sich ihren Weg bahnt. Angestautes fließt hinaus und die Gedankenfetzen schwärmen unsortiert aus, wenn Loyle eng getaktet über Diskriminierungserfahrungen, Gewalt gegen Frauen und diffuse Ängste rappt.

Morgan Simpson, der Drummer von Black Midi, verleiht anschließend dem gospelhaften Sample auf »Nobody Knows« einen treibenden Duktus, zu dem Carner sein zerschlissenes Verhältnis zu seinem Vater auslotet, seinem Zorn ebenso Raum gibt wie dem Wunsch, die Risse im Verhältnis und die Identitätsfragen aufzuarbeiten, gerade weil er vor kurzem selbst Vater wurde.

Das Albumcover versetzt die Betrachtenden in den Blick aus dem Kindersitz. Verschwommen überdeckt eine überdimensioniert wirkende Hand mit Schnuller die untere Bildhälfte, in verzerrter Perspektive richtet sich der Blick auf den frischgebackenen Vater, der jedoch keinen Blick zurückwirft, sondern die Augen geschlossen hat. Auf dem Beifahrersitz ein teilnahmsloser Schatten. Es ist eine hektische, überfordernde Szenerie, ein beengter Bildausschnitt, in dem sich Carners Ängste verdichten.

Außer den Selbstzweifeln, ob er seiner neuen Rolle als Vater gerecht wird, schwemmen die Fahrstunden auch die Identitätsfragen an die Oberfläche. In dem von Madlib produzierten Song »Georgetown« taucht der Dichter John Agard als Gast auf und rezitiert sein Gedicht »Half-Caste«, das die Absurdität des abwertenden Begriffs (zu Deutsch in etwa: Mischling) offenlegt, der immer eine Unvollständigkeit impliziert und aus der Terminologie des Kolonialismus stammt. Aber nicht nur der Rassismus, dem multiracial people im Vereinigten Königreich ausgesetzt sind, auch die fehlende Zugehörigkeit, die sich mit dem Rapper Earl Sweatshirt pointiert als »Too black for the white kids, and too white for the blacks« umschreiben lässt, treibt Carner um.

Die Fahrstunden mit seinem Vater fielen zudem in die Zeit der wiederaufflammenden Black-Lives-Matter-Proteste, und so ragen auch die Debatten über strukturellen Rassismus und Polizeigewalt in dem Track »Blood on My Nikes« in das Album hinein. In ihm wird der Alltag eines Jugendlichen skizziert, der nicht weit von der Schule, an der Coyle-Larners Freundin arbeitet, wegen eines Paars Schuhe erstochen wurde. Der Gastmusiker Wesley Joseph murmelt »Mama, I lost a friend«, und zum Schluss verschmelzen Alfa Mists Pianoklänge mit der Rede, die der Aktivist Athian Akec im gleichen Alter wie das Mordopfer im House of Commons gehalten hat. Darin hält er die Politiker an, Vernunft statt Rhetorik, Mitgefühl statt Gleichgültigkeit und Gleichheit statt Austerität walten zu lassen, um die Epidemie des knife crime zu bekämpfen, anstatt das racial profiling auszuweiten.

Vorangegangen sind dem Album Jam-Sessions, die Loyle Carner genug Gelegenheit zum Experimentieren boten und deren Ergebnisse seine Texte gleichsam geschliffener und intuitiver wirken lassen. So finden sich auf »Hugo« reine Jazz-Episoden und Momente, die einem kontem­plativen Sound entgegenstehen, gewissermaßen Fissuren im Soundbild hinterlassen.

Zum Ende findet sich in dem Song »HGU« dann aber doch ein echter »Loyle Carner Type Beat«, der bereits seit zwei Jahren durch das Internet geistert. Die bei Youtube vielgeklickten Type Beats stammen von unbekannten Produzent:innen, die das Soundbild berühmter Rapper:innen imitieren. Carner hat sie in seine eigene Musik aufgenommen. Seine Stimme ist hier von einer ungewohnten Dringlichkeit, mit der er nochmal all die aufgewühlten Emotionen zusammenwebt. Auch wenn er immer wieder »I forgive you I forgive you I forgive you« ins Mikrophon schreit, bleiben die Worte eine fragile Proklamation. Die letzte Zeile »Still I’m lucky, yo, that we talk« klingt nach einer zögerlichen Hoffnung, dass die Gespräche mit seinem Vater zumindest den richtigen Prozess hin zu einer Versöhnung anstoßen. Doch die Katharsis bleibt aus, und gerade diese Offenheit, die immer wieder in Zerrissenheit zu kippen droht, macht »Hugo« zu seinem bisher interessantesten Album.

In einem Gespräch mit dem Magazin All Good betonte Carner, wie wichtig es ihm sei, auch bei seiner kommenden Tour am Merchandising-Stand zu stehen und ein offenes Ohr für seine Fans zu haben. In vorsichtiger Abgrenzung zu Kendrick Lamar, der zuletzt ähnlich aufwühlende Themen behandelte, will der Brite eine Möglichkeit des Austauschs herstellen: »Mentale Gesundheit und Therapie, das sind Themen, denen viele Leute, besonders Männer, niemals ausgesetzt waren. Ich bin nicht wütend auf Kendrick, aber ich hätte mir gewünscht, dass er nach seinem Album Initiative ergreifen und einen Raum für Konversationen schaffen würde.«
Als Ende Januar der eisige Wind über den Berliner Columbiadamm fegte und die Fans nach Carners Konzert aus dem Saal der Columbiahalle strömten, stand vermutlich keine Whiskyflasche beim Merchandising. Benjamin Coyle-Larner hat wahrscheinlich trotzdem mit alkoholfreiem Guinness bei den Shirts gewartet, und vielleicht ging es in den Gesprächen mit seinen Fans diesmal außer um sein liebstes Ottolenghi-Rezept und Englands WM-Performance auch um Vaterschaft, die Fehler der eigenen alten Herren, darum, sie in die Verantwortung zu nehmen oder ihnen zu vergeben, um vorgelebte Männlichkeitsentwürfe im Allgemeinen, um sein ADHS, um die Windrush-Generation (von 1948 bis 1971 wanderte eine halbe Million Menschen aus dem Commonwealth in Großbritannien ein), der auch Coyle-Larners Großeltern angehörten, um knife crime, um deutschen Rassismus, wie er in der Rede von »Messermännern« zum Ausdruck kommt, um den Anschlag in Hanau und was in den drei Jahren seither geschehen ist. Und vielleicht musste er das Gespräch dann abbrechen, denn im Tourbus wartet schließlich sein Sohn.

Loyle Carner: Hugo (EMI)