Das Gerede über die »Narrative«

Am Grabbeltisch der Erzählungen

Das Gerede vom »Narrativ«, dem Symbolwort der Postmoderne, hat in der Theorie nicht nur die Begriffe Ideologie und Mythos verdrängt, es zeigt auch an, wie es um die Wahrheit steht – nämlich nicht gut.

Wissen Sie, was das »Narrativ der Kritischen Theorie« ist? Nein? Halb so wild. Vielleicht weiß das niemand so genau, aber irgendwer behauptet immer, es gäbe so etwas. Festgestellt haben das Christoph Hesse und Dirk Braunstein. In »Schiffbruch beim Spagat«, ihrem 2021 erschienenen Wörterbuch des akademischen Jargons, findet sich auch ein Eintrag zum Modewort »Narrativ«. Seit über 20 Jahren bereichert es den Sprachschatz von Leuten mit Universitätsabschluss. Bereits vor etwa zehn Jahren begannen Sprachwissenschaftler und Feuilletonisten, sich in größerer Zahl darüber zu mokieren – und tun es in regelmäßigen Abständen wieder.

Dabei ist Interessantes herumgekommen. Gisela Zifonun beispielsweise hat im »Sprachreport« von 2017 erklärt, dass Berufsschreiber mit einem »Narrativ« mittlerweile ganz Verschiedenes meinen: Seine Bedeutung schwankt irgendwo zwischen einer sinnstiftenden Erzählung, der viele Menschen anhängen; einem von verschiedenen Deutungsangeboten für dieselbe Sache; einer propagandistischen Verdrehung der Wirklichkeit; und schließlich bloß so etwas wie einer Idee oder Vorstellung. Zudem hat sie treffend festgestellt, dass gewöhnlich jeder sein eigenes Narrativ haben darf.

Der landläufigen Meinung nach soll der Glaube an Narrative nichts Objektives ausdrücken. Man kann sie nach Gutdünken für richtig oder falsch halten, für nützlich oder schädlich, man kann sie annehmen oder verwerfen.

Man kennt es zur Genüge: Über Tatsachen darf man sich nicht streiten, die klärt abschließend der Faktencheck. Ihre Interpretation soll dagegen beliebig sein. Verschiedene Narrative konkurrieren eben miteinander; Wahrheit, die über sie hinausginge, gibt es nicht. Wer behauptet, seine eigene Auffassung von den Dingen sei zutreffender als eine andere, ist intolerant. Verhandelt werden kann nur darüber, wo die Grenze zwischen unumstößlichen Tatsachen und willkürlichen Meinungen verläuft. Weil diese ganze Weltauffassung im »Narrativ« steckt, ist es das Symbolwort der Spätpostmoderne. Wie passend – auch das stellt Zifonun dar –, dass es wohl über den Umweg der englischen Übersetzung von Jean-François Lyotards antiuniversalistischer Grundlagenschrift »La condition postmoderne« (1979, deutscher Titel: »Das postmoderne Wissen«) in die deutsche Sprache eingewandert ist.

Kurz: Die Rede von »Narrativen« geht unter der Ägide der postmodernen Perspektivenvielfalt einfach nicht auf. Dabei ergibt sie in manchem Zusammenhang noch immer Sinn. Das gilt übrigens für die meisten Worte des Intelligenzleridioms – sie haben mal etwas bedeutet, bevor sie zum »Dingsda« für Bildungsbürger wurden. Sozialforschern, Psychotherapeuten und Literaturwissenschaftlern ist wenig vorzuwerfen, wenn sie die Erzählung einer Gruppe von Leuten, eines Kranken oder eines Romans ein »Narrativ« nennen. Historiker haben jedes Recht, ihre eigene Geschichtsschreibung so zu bezeichnen. Und wenn man ausdrücken will, dass sich im kollektiven Bewusstsein eine bestimmte Auffassung der Vergangenheit abgelagert hat, dann mag die vielleicht auch »Narrativ« heißen.

Damit genug der Friedensangebote und auf zu einer anderen (Pseudo-)Wissenschaft: Manfred Becker, emeritierter Professor für Betriebswirtschaftslehre, veröffentlichte 2019 ein Buch namens »Das digitale Narrativ«. Er fordert darin: »Das digitale Narrativ muss geschrieben werden.« Aha. Und weshalb? »Ohne ein Storyboard, ohne einen Masterplan, ohne ein schlüssiges Narrativ, kann die digitale Transformation (…) nicht sinnvoll und schon gar nicht human gestaltet werden«, teilt Becker mit. Der Autor weiß, dass die Menschheit ständig daran scheitert, sich das Leben angenehmer zu machen. Die von ihm so bezeichnete »digitale Transformation« ebnete nicht den Weg ins Reich der Freiheit, so sehr es die Pioniere der Freie-Software-Bewegung auch hofften. Wie jeder technische Fortschritt, folgt sie keinem menschlichen Zweck, sondern dem schnöden Gesetz des Kapitals: Arbeitskraft ausquetschen, aus Geld mehr Geld machen, Konkurrenten ausstechen.
Wer das nicht wahrhaben will, kann es wie Becker machen und auf ein »Storyboard« und einen »Masterplan« hoffen, genauer: ein »schlüssiges Narrativ«, das die Entwicklung der Technik wieder kontrollieren hilft. Das ist dann aber der berüchtigte Rückfall in Mythologie: Horden an Wissenschaftlern, Computernerds und Politikern sind offensichtlich nicht in der Lage, den Fortschritt in eine menschliche Richtung zu lenken, aber ein virtuos geschriebenes Märchen soll es richten.

Beckers naiver Größenwahn ist sicherlich eine Ausnahme. Er veranschaulicht aber: Wer nach Narrativen lechzt, ist selten damit beschäftigt, seinen Gegenstand intellektuell zu durchdringen, sondern eher damit, ihm einen Sinn anzudichten. Narrativebasteln darf man sich vorstellen wie Legospielen. Hier ein historisches Ereignis, da eine Expertenmeinung, dort eine politische Idee, obendrauf ein Anekdötchen – was irgendwie zueinander passt, wird zusammengesteckt. Es kommt gar nicht so sehr darauf an, ob man selbst Narrative ertüfteln will oder nur fremde aufspüren; die Vorstellungswelt bleibt dieselbe. Ein Narrativ ist seinem Wesen nach sinnstiftend und beliebig – oder wie man im zeitgerechten Akademikerjargon sagt: »produktiv« und »flüssig«. Mit unumstößlichen Widersprüchen verträgt sich das nicht gut. Das unterscheidet das »Narrativ« von älteren Worten, die es verdrängt, beispielsweise »Ideologie« und »Mythos«.

Denn Ideologien und Mythen, das war allen klar, kann man aufschlüsseln. Es handelt sich in beiden Fällen um falsche Vorstellungen, die aber nie bloß falsch sind. Linksliberale Ideologen zum Beispiel sind zwar doof, aber sie sind es nicht freiwillig. Sie werden doof gemacht von der Unmöglichkeit, »gut zu sein und doch zu leben«, wie Bertolt Brechts Shen Te sagen würde. Und nationale Gründungsmythen sollen jeden Bürger emotional an seine Landsleute binden, mit denen er unweigerlich auskommen muss. Ebenso verdichten sich in ihnen oft die Geschichte und das von ihr untrennbare Selbstverständnis einer Nation – man denke nur an die Boston Tea Party, die Unabhängigkeitserklärung und den American Dream. Wenn hingegen 20mal täglich in deutschsprachigen Zeitungen über ein Narrativ berichtet wird, geht es keinmal davon um dessen handfesten Grund. Das ginge auch gar nicht. Denn Ideologiekritik lässt sich schlecht betreiben, wenn man in den Kommoden fremder Oberstübchen nur austauschbare Erzählungen zu finden meint.

Der landläufigen Meinung nach soll der Glaube an Narrative nichts Objektives ausdrücken. Man kann sie nach Gutdünken für richtig oder falsch halten, für nützlich oder schädlich, man kann sie annehmen oder verwerfen. Auf dem Grabbeltisch der Erzählungen darf sich deshalb jeder sein Lieblingsnarrativ aussuchen. Dar­in schlummert die Vorstellung, Leute seien frei zu denken, was sie wollen. So kommt die postmoderne Beliebigkeit unverhofft wieder ganz nah heran an das vormoderne Modell einer über der Gesellschaft schwebenden Wahrheit. Nur mit einem gewichtigen Unterschied: Einst hofften die Menschen, sich der kosmischen Wahrheit anzunähern – heute scheint es, als könne man überhaupt nichts mehr richtig machen.

Die Allgegenwart der Narrative ist nicht bloßes Geschwätz, sie kündet von einer Zeit, in der man sich stets neu erfinden muss, sich seiner selbst nie sicher sein kann. So »flüssig« wie die Narrative sind auch die Lebensentwürfe. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat es mit dem Begriff der »Singularitäten« auf den Punkt gebracht: Viele suchen nach ihrem exklusiven Lifestyle, nach ihren höchstpersönlichen Vorstellungen vom Guten und Schönen. Die Nischeninteressen, kuriosen Hobbys und wild zusammengeklaubten Weltbilder sind der Effekt dessen, dass sich das Kapital möglichst individuelle Konsumenten her­anzüchtet, um noch irgendwie Waren abzusetzen. Scharen von Produktmanagern und Influencern sind damit beschäftigt, Erzählungen zu häkeln, in denen das Versprechen von Individualität und Authentizität an den Konsum austauschbarer Produkte geknüpft wird.

Unter Marktforschern hat vor über 30 Jahren Markus Möglich den alten Otto Normalverbraucher beerbt. Markus teilt seine Vorlieben und Ideen mit einer über das ganze Land, vielleicht sogar den Globus verstreuten Community – aber mit niemandem aus dem eigenen Wohnblock. Die Konsumentenidentitäten sind so einzigartig wie austauschbar: Markus kann heute Veganer sein, morgen Rennradnarr und übermorgen Fred-Perry-Jackenträger – oder alles gleichzeitig, solange er nur den Konsum zur Persönlichkeit überhöht. Mangelt es an Zeit oder Lust, wird er seine vormalige Identität schwuppdiwupp als Marotte von Vergangenheits-Markus abtun. Das gilt im selben Maße für politische Überzeugungen: In jedem Freundeskreis gibt es Leute, die sie im gleichen Rhythmus wechseln wie Single-Männer ihre Bettwäsche.

Daran etwas ändern kann kein neues Narrativ. Es liegt überhaupt nicht in der Macht der Menschen, solange sie nur vom Kapital geduldete Kreaturen sind. Im Gegenteil: Manch wiedererwachter Dogmatismus, manche Retraditionalisierung der radikalen Linken ist augenscheinlich eine verzweifelte Reaktion auf die ewige Suche nach Identität. Das Versprechen neuer alter Sicherheit führt aber nirgendwohin, denn nur pubertärer Trotz rechtfertigt, die richtigerweise abgelegten Symbole und Parolen wieder hervorzukramen. Statt ziellos dem »Zeitgeist« davonrennen zu wollen, könnte man ihm auch selbstbewusst gegenübertreten: So beliebig, wie die Gesellschaft für Narrativspürnasen riecht, ist sie beileibe nicht. Felsenfest steht ihr ökonomisches Gesetz. An den Wunden, die sie zufügt, gibt es wenig herumzudeuteln. Niemandem muss man erklären, dass Hunger keine Erzählung ist und es harte Währung braucht, um Rechnungen zu zahlen.