Die Wirtschaftskrise in Kuba verschärft sich unaufhaltsam

Planlos in die Zukunft

Seit Monaten wird auf Kuba gegen den anhaltenden Mangel protestiert. Hunderttausende haben die Insel auf der Suche nach einem besseren Leben bereits verlassen. Die Regierung hat dem kaum etwas entgegenzusetzen und verfolgt stattdessen die Protestierenden.

Santiago de Cuba. 17M wird der große Protest in Kuba vom 17. März in den sozialen Medien genannt. Je nach Quelle waren einige Hundert oder über 1.000 Menschen in Santiago de Cuba, der zweitgrößten Stadt der Insel, zwischen Stadtzentrum und der Hafenfestung »El Morro« auf der Straße und hatten gegen die täglichen, bis zu 16 Stunden andauernden Stromabschaltungen und die prekäre Versorgungslage protestiert.

Direkt nach den Protesten nahm die Polizei niemanden fest, aber wenige Tage später folgten die ersten Festnahmen, berichtet Juan Elias Navarro. Der 62jährige protestierte zwar nicht selbst, ist aber einer der Aktivisten in Santiago de Cuba, die regelmäßig Besuch von der Polizei und auch von der Staatssicherheit, der politischen Polizei in Santiago de Cuba, bekommen, weil er die realsozialistische Regierungspolitik in den sozialen Medien kritisiert, wo er einige Tausend Follower hat.

Dort hat er auch die Information geteilt, dass Cristian Kindelán, ein gerade 18jähriger Mann, im Haus seiner Eltern festgenommen und auf die Wache gebracht wurde. »Dagegen protestierte der Vater, Asdrúbal Kindelán. Er schrieb einen Facebook-Post, kritisierte das Vorgehen der Polizei und wurde daraufhin ebenfalls festgenommen«, sagt Navarro.

Ein Mittagessen in einem Privat­restaurant schlägt mit 2.500 Peso zu Buche, dem offiziellen Mindestlohn – die Diskrepanz zwischen Einkommen und Preisen ist gigantisch.

Die Polizei wertet nach Protesten, die in Kuba derzeit zunehmen, üblicherweise die Aufnahmen von Überwachungskameras und Mobiltelefonen aus und nimmt die Sprecher:innen fest. Das war auch nach den landesweiten Protesten am 11. und 12. Juli 2021 so, die sich zu den größten sozialen Protesten seit dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 ausgeweitet hatten. Über 1.400 Menschen, dar­un­ter auch Minderjährige, wurden damals binnen eines Monats festgenommen und einzelne zu Haftstrafen von bis zu 30 Jahren verurteilt.

Ein solches rigides Vorgehen der Behörden, die sich in vielen Fällen auf fragwürdige Zeugenaussagen stützen, kritisieren kubanische Menschenrechtsorganisationen wie die juristische Be­ratungsorganisation Cubalex auch gerade wieder. »Sie verfolgen das Ziel, die Kontrolle zu behalten, den Deckel auf dem Topf zu halten«, so Navarro.

Desolate Versorgungssituation, Mangel an Lebensmitteln

Das wird immer schwieriger, denn die desolate Versorgungssituation und der Mangel an Lebensmitteln sind allerorten auf der Insel zu sehen. Der kritische Sozialwissenschaftler Manuel Cuesta Morúa aus Havanna berichtet von den alltäglichen Szenen auf dem Bauernmarkt in der 19. Straße des zen­tralen Stadtteils Vedado, wo etliche Menschen, die sich den Einkauf nicht leisten können, auf die Reste warten, die im Müll landen: »Wir machen eine ökonomische Krise durch, die mehr und mehr die zu Beginn der neunziger Jahre in den Schatten stellt.«

Kuba verlor 1991 mit der Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, eines Wirtschaftsbündnisses realsozialistischer Staaten unter Führung der Sowjetunion, binnen weniger Monate bis zu 85 Prozent seiner Handelspartner, darunter die Sowjetunion und die DDR. Damals wurde in Kuba nicht nur gehungert, die sozialen Sicherungssysteme waren nur partiell in der Lage, den beispiellosen ökonomischen Einbruch abzufedern.

Das ist heutzutage nicht anders. Vor allem die Rentner der Revolution, die oftmals weniger als 1.500 Kubanische Peso und nur selten mehr als 2.000 Peso erhalten, stehen ganz unten in der sozialen Hierarchie, sagt Morúa: »Sie können sich die Lebensmittel auf den Bauernmärkten der Insel schlicht nicht leisten, wo ein Pfund Bohnen 350 Peso kostet.« Ein Mittagessen in einem Privatrestaurant schlägt mit 2.500 Peso zu Buche, dem offiziellen Mindestlohn – die Diskrepanz zwischen Einkommen und Preisen ist gigantisch.

Ein Dialog mit der eigenen Bevölkerung, die Suche nach Lösungen, nach strukturellen Reformen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Bereich sei nicht in Sicht, kritisieren viele Kubaner.

Bohnen und Reis gehören in Kuba zu den Grundnahrungsmitteln, sind aber immer wieder knapp, wie überhaupt fast alle Produkte im Land. Selbst Zucker wird nicht mehr in ausreichender Menge für die eigene Bevölkerung produziert. »Im vergangenen Jahr sank die Ernte auf weniger als 500.000 Tonnen. In Kuba werden aber 600.000 Tonnen konsumiert«, so der kubanische Journalist Iván García. Er ist Korrespondent für eine Tageszeitung aus dem US-amerikanischen Miami und wirft der Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel vor, nur Rhetorik und keine Konzepte zu haben. Für alles und jedes werde das 1960 eingeführte und seitdem mal verschärfte, mal auch wieder gelockerte US-Embargo verantwortlich gemacht, aber Tatsache sei, dass die kubanische Landwirtschaft seit mindestens 30 Jahren nicht funktioniere.

Das bestätigen die Statistiken, denen zufolge Kuba rund 85 Prozent der auf der Insel konsumierten Lebensmittel importiert. Daran haben auch etliche Reformen im Agrarbereich nichts geändert und eine Fahrt über die Insel bestätigt, dass große Teile der sechs Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche brachliegen.

Experten fordern Agrarreformen

Überbordende bürokratische Kontrollen, ein staatliches Ankaufsystem, das den Bauern weniger als die Produktionskosten anbietet, und latenter Mangel an Saatgut, Maschinen und Arbeitsmaterialien wie Macheten, Hacken oder selbst Gummistiefeln sind dafür verantwortlich. Seit Jahren fordern Experten wie der Ökonom Juan Triana Cordoví oder der freie Analyst und Sozialwissenschaftler Omar Everleny Pérez Villanueva, die oft defizitären großen Genossenschaften Unidades Básicas de Producción Cooperativa (UBPC), die 1993 aus staatlichen Großbetrieben hervorgingen, zu schließen und die Agrarwirtschaft von Grund auf zu reformieren. Doch davor scheut die kubanische Regierung zurück.

Schlimmer noch: Ein Dialog mit der eigenen Bevölkerung, die Suche nach Lösungen, nach strukturellen Reformen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Bereich sei nicht in Sicht, kritisieren viele Kubaner. Einer ist William, ein 33jähriger Taxifahrer aus Havanna, der sein Ingenieursstudium abgebrochen hat und händeringend nach einer Möglichkeit sucht, die Insel zu verlassen: »Ich gehe überall hin, wo ich eine Chance habe, etwas Eigenes aufzubauen.« Er wirft der Regierung vor, vor allem in die eigene Tasche zu wirtschaften: »Korruption und Misswirtschaft sind auf dem Vormarsch, soziale Verantwortung spielt keine Rolle mehr.« Mit seinem klapprigen alten sowjetischen Auto chauffiert William Einwohner wie Touristen durch die Hauptstadt. Doch gerade Letztere sind derzeit selten in Kuba, zudem ist der Benzinpreis von 25 Peso auf 132 Peso gestiegen und ein Ende der Inflationsspirale nicht absehbar.

Nach der Niederschlagung der Proteste vor drei Jahren erlebt die Insel eine beispiellose Auswanderungswelle. Seit der Öffnung der kubanischen Flughäfen im November 2021 nach der pandemiebedingten Schließung sind bis zum ­Januar 2024 allein in den USA über 600.000 Kubaner:innen angekommen.

Gravierend ist auch, dass viele und vor allem junge Menschen das Land verlassen. »Ganze Universitätskurse gehen geschlossen ins Ausland«, sagt García und verweist auf eine Dozentin von der Universität Matanzas, die ihm das von einem ihrer Kurse berichtete. Nach der Niederschlagung der Proteste vor drei Jahren erlebt die Insel eine beispiellose Auswanderungswelle. Seit der Öffnung der kubanischen Flughäfen im November 2021 nach der pandemiebedingten Schließung sind bis zum ­Januar 2024 allein in den USA über 600.000 Kubaner:innen angekommen. Hinzu kommen weitere Abertausende, die nach Spanien, Panama, Venezuela, Serbien, Russland oder Surinam emi­griert sind.

Auswandern ist für viele dieser Menschen die einzige Option. Sie versilbern in Kuba alles, was sie besitzen, sagt Pérez. Er wurde 2016 von der Universität Havanna entlassen, weil er tiefgehende Reformen angemahnt hatte, die bis heute nicht initiiert wurden. Nun verliert die Insel immer mehr junge Menschen und damit ihre ökonomische Zukunft, sie vergreist zusehends, so Pérez. Die Bevölkerung schrumpft und bis 2029 wird der Anteil der über 60jährigen 30 Prozent überschreiten. Daran wird sich ohne Reformen kaum etwas ändern, aber den politischen Willen sprechen viele der Regierung von Díaz-Canel ab. Das sorgt dafür, dass die Botschaften in Havanna überlaufen sind, denn der Ansturm auf Visaprogramme und Stipendien ist immens.

Dieser Weg war der 39jährigen Yanicel, die vor zwei Tagen in den Flieger nach Nicaragua stieg, versperrt. Die diplomierte Sportlehrerin und Sozialarbeiterin versucht es mit einer Freundin auf dem Landweg über Honduras, Guatemala und Mexiko in die USA. Sie ist eine der wenigen, die zurückkehren wollen, zu ihren Eltern und der kleinen Tochter – sobald sie etwas angespart hat.