Die Straffreiheit für NS-Täter und das Dreher-Gesetz von 1968

Heimliche Verjährung

1968 löste eine unscheinbare juristische Reform – das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten – die Einstellung Tausender wegen NS-Verbrechen geführter Ermittlungsverfahren aus. Bis heute ist unklar, ob es sich dabei um eine Panne oder die Finte eines ehemaligen NS-Richters handelte.

Mord verjährt nicht – das klingt nach einem ehernen Gesetz, es gilt in Deutschland aber erst seit 1979. Damals beschloss der Bundestag, dass Mord künftig nicht mehr verjähren sollte. Es war der Schlusspunkt unter einer 20jährigen Debatte über die Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen.

Betroffen sind davon sowohl Täter als auch die sogenannten Teilnehmer der Tat. Denn das deutsche Strafrecht unterscheidet seit der Kaiserzeit mehrere Beteiligungsformen. Teilnehmer sind zum einen die Anstifter: Menschen, die andere dazu bringen, eine Tat zu begehen. Zum anderen sind es solche, die Beihilfe leisten und als Gehilfen gelten. Teilnehmer, Gehilfen, diese Begriffe klingen zunächst nach Nebenfiguren, die beispielsweise bei einem Raubüberfall Schmiere stehen, damit die Haupttäter nicht gestört werden. Da die Rechtsprechung diesem Begriff aber auch jene zurechnet, die eine Tat angeblich »nicht als eigene wollen«, fielen darunter auch SS-Angehörige, die eigenhändig Juden töteten.

Hitler, Goebbels, Himmler und viele andere hatten sich selbst getötet, bevor sie juristisch belangt werden konnten. Ermittlungen gegen sie stand also ein »absolutes Verfahrenshindernis« entgegen, wie es im juristischen Jargon heißt. Übrig blieben Zigtausende Männer und auch einige Frauen, die sich vor Gericht meist als ebenso unpolitische wie pflichtbewusste Befehlsempfänger ausgaben.

Die Legende, das im Grunde unschuldige deutsche Volk sei von dämonischen Figuren an der Spitze verführt worden, fand seine juristische Entsprechung darin, dass die absolute Mehrzahl der an den Massenmorden Beteiligten als Gehilfen eingestuft wurden.

Die sogenannte subjektive Theorie des deutschen Strafrechts mit ihrer Unterscheidung verschiedener ­Willensformen kam ihnen da ent­gegen. Danach gilt als Täter, wer die Tat als eigene will; als Gehilfe, wer die Tat als fremde will. Die Legende, das im Grunde unschuldige deutsche Volk sei von dämonischen Figuren an der Spitze verführt worden, fand seine juristische Entsprechung darin, dass die absolute Mehrzahl der an den Massenmorden Beteiligten als Gehilfen eingestuft wurden. Den eigenen Antrieb der Handelnden, ihren häufig gut belegten Hass auf ihre Opfer, untersuchten die Gerichte der Nachkriegsjahrzehnte oft gar nicht.

Als Gehilfen konnten sogar Staatsanwälte und Richter gelten, die im »Dritten Reich« Todesurteilen erwirkt oder verhängt hatten: Juristen wie Eduard Dreher. Im Zweiten Weltkrieg beantragte der zuvor in Sachsen ­tätige Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck in diversen Fällen die Todesstrafe. Während er damit im Verfahren 1942 gegen die zum »Volksschädling« erklärte Hausiererin Karoline Hauser auch in der Revision erfolglos blieb, wurde der

Angeklagte Anton Rathgeber auf Betreiben Drehers wegen von ihm begangener Plünderungen nach Bombenangriffen 1944 tatsächlich hingerichtet.
Dreher trat in den fünfziger Jahren in den Dienst des Bundesjustizministeriums in Bonn ein. Er machte dort Karriere und verantwortete die Einführung des Ordnungswidrigkeitengesetzes, eine für sich betrachtet recht fortschrittliche Maßnahme, mit der kleinere Delikte entkriminalisiert und nurmehr als Ordnungswidrigkeiten verfolgt werden sollten. Eine darin vorgenommene redaktionelle Änderung im Gesetzgebungsverfahren ließ Beihilfe zum »Mord aus niedrigen Beweggründen« schon nach 15 Jahren verjähren, sofern dem Gehilfen diese Beweggründe nicht selbst nachgewiesen wurden – eine folgenreiche Korrektur.

Die Rosenburg in Bonn war bis 1973 Sitz des Bundesjustizministeriums, Aufnahme von 1950

Die Rosenburg in Bonn war bis 1973 Sitz des Bundesjustizministeriums, Aufnahme von 1950

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Ende der sechziger Jahre war die Debatte über Verjährungsfristen von NS-Verbrechen in vollem Gange. Man hatte sich zwar im Bundestag darauf verständigt, die Fristen für die Taten nicht 1945, sondern erst 1950 beginnen zu lassen. Eine Generalamnestie für NS-Verbrechen, wie sie ein Kreis um den Essener FDP-Politiker Ernst Achenbach angestrebt hatte, konnte sich nicht durchsetzen. Achenbach selbst war an der Judenverfolgung im besetzten Frankreich selbst beteiligt gewesen.

Mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess und vor allem den Frankfurter Auschwitz-Prozessen fanden ab Ende der fünfziger Jahre wichtige Prozesse statt. Doch die damals geltende maximale Verjährungsfrist von 20 Jahren drohte Ende 1969 abzulaufen. Wieder bestand die Gefahr, dass durch Verjährung Tausende Täter davonkommen würden.

Welchen Zündstoff nun das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) barg, hatte man dabei aber noch gar nicht bedacht. In Artikel 1 Ziffer 6 wird der bisher bestehende Paragraphen 50 des Strafgesetzbuchs wie folgt verändert: »Fehlen besondere persönliche Merkmale (Paragraph 14 Absatz 1), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe), so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.« Paragraph 49 Strafgesetzbuch verkürzt die Verjährung der gemilderten Strafen. In einem Entwurf von 1962 war diese Begünstigung der Teilnehmer noch nicht enthalten gewesen.

Urteil über Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes

Es erscheint unwahrscheinlich, dass der Ministerialbürokratie verborgen blieb, was dem Spiegel am 12. Januar 1969 auffiel: »Bezog sich die Vorschrift alter Fassung nur auf solche persönlichen Gesetzes-Merkmale, die ›die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen‹, so gilt sie nun auch für Merkmale, die die Strafbarkeit ›begründen‹.«

So landet man beim Mord-Paragraphen. Anders als die juristische Wissenschaft betrachtete der Bundesgerichtshof den Mord nämlich nicht als »Qualifikation« des Totschlags (so, wie sich beispielsweise eine gefährliche zur normalen Körperverletzung verhält), sondern als Straftat eigener Art. Wäre es eine Qualifikation, begründete der Tatbestand des Totschlags die Strafe, nicht erst die niedrigen Beweggründe.

Die Verjährung würde aber nur eintreten, wenn der Bundesgerichtshof niedrige Beweggründe als täterbezogene persönliche Merkmale ansehen würde. Das stand keineswegs fest. Seit seiner Gründung hielt das Gericht solche »inneren Merkmale« vielmehr für tatbezogen. Dreher zufolge war nicht zu erwarten, dass der BGH in einem anstehenden Urteil über Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes von der bisheriger Rechtsprechung abweichen würde. Auch der damalige Justizminister Gustav Heinemann (SPD) erklärte, es bestehe »kein Anlass, anzunehmen, dass die Rechtsprechung nunmehr diesen Begriff anders als bisher auslegen« werde.

Einheitlichkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung

Das stimmte nicht ganz: In der Gesetzgebungsbegründung zum EGOWiG war nun zu lesen, täterbezogen seien »auch sogenannte Ge­sinnungsmerkmale wie ›böswillig‹, ›gewissenlos‹, ›aus Habgier‹. Es erscheint gerechter, wenn in allen derartigen Fällen besondere Strafdrohungen nur für den Täter und Teilnehmer gelten, bei dem die maß­gebenden Merkmale gegeben sind.« Abgesehen davon, dass der Begriff »Gesinnungsmerkmal« noch den ganzen Mief der nationalsozialistischen Tätertypenlehre verströmt: Angesichts dieser Begründung hätte allen Beteiligten auffallen müssen, dass der BGH auch die niedrigen Beweggründe als täterbezogene Gesinnungsmerkmale ansehen könnte und somit einen Anlass hatte, seine bisherige Linie zu ändern.

Dessen Richter Rudolf Schmitt wies nach Verabschiedung, aber vor Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 1968 einen Ministerialbeamten auf diese Möglichkeit hin. Der Gesetzgeber hätte also noch reagieren können, tat es aber nicht. Es spricht einiges dafür, dass Eduard Dreher als verantwortlicher Mitarbeiter diese Information mutwillig verschleppte, wie es in dem 2016 erschienenen Buch »Die Akte Rosenburg« von Manfred Görtemaker und Christoph Safferling über das Justizministerium und die NS-Zeit beschrieben wird.

Niedrige Beweggründe hatte zuvor auch das Kammergericht (wie in ­Berlin der Name des Oberlandesgerichts lautet) als tatbezogen ange­sehen. Wollte der BGH seine Linie korrigieren, erschien es naheliegend, seinen Großen Senat für Strafsachen anzurufen; dieses Gremium soll die Einheitlichkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung sicherstellen. Dies lag aber völlig im Ermessen des Gerichts, einen Anspruch des Bundesanwalts auf die Anrufung des Senats gab es nicht.

Die Justiz war sehr gnädig mit den alten Nazis

Der Vorsitzende Richter Werner Sarstedt war eine zwiespältige Figur: Selbst mit NS-Vergangenheit behaftet, hatte er gemeinsam mit Fritz Bauer, Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, öffentlich moniert, in NS-Verfahren werde zu oft von Beihilfe ausgegangen. Neben dem Vorsitzenden waren drei weitere Richter NS-belastet, unter ihnen der vormalige Wehrmachtsrichter Richard Börker, der eine Verweisung an den Großen Senat mit der Begründung ablehnte, man müsse schließlich »Manns genug sein, selbst zu entscheiden«.

Was dann auch geschah: Der 5. Senat des Bundesgerichtshofs urteilte am 20. Mai 1969, dass Beihilfe zum Mord aus niedrigen Beweggründen zum 8. Mai 1960 verjährt sei, genau 15 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs. Das unwahrscheinliche Ereignis war eingetreten.

Dass es sich um eine Verschwörung in Ministerien und Justiz zugunsten der NS-Beschuldigten handelte, lässt sich auch aufgrund seltsam lückenhafter Akten kaum beweisen.

Es spricht manches dafür, dass »Eduard Dreher gedreht« hat, wie es der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner formulierte. Die wesentlichen Dokumente aus den Akten fehlen. Sicher ist, dass er persönliches Interesse an der Verjährung von NS-Verbrechen hatte. Am 14. August 1968 war gegen ihn wegen Mitwirkung an den Todesurteilen in Innsbruck eine Strafanzeige beim Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg gestellt worden. Er stand zudem im 1965 erschienenen »Braunbuch«, in dem die DDR öffentlichkeitswirksam NS-Verbrecher aufgelistet hatte, die in der BRD unbehelligt blieben.

Theoretisch wäre die Frage damit noch nicht abgeschlossen gewesen. Sofern auch den Beschuldigten selbst niedrige Beweggründe nachgewiesen werden konnten, wäre Verjährung noch nicht eingetreten. Hier war die Justiz sehr gnädig mit den alten Nazis, nahmen Staatsanwaltschaften und Gerichte die Beteuerung der fehlenden inneren Motivation einfach für bare Münze, selbst wenn der Hass auf Juden und andere Minderheit gut dokumentiert war.

Der Prozess gegen John Demjanjuk 2011 gilt als Wendepunkt. Zur Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord genügte die Tatsache, dass er als Wächter in Sobibor für das Aufrechterhalten der Vernichtungsmaschinerie mitverantwortlich war

Der Prozess gegen John Demjanjuk 2011 gilt als Wendepunkt. Zur Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord genügte die Tatsache, dass er als Wächter in Sobibor für das Aufrechterhalten der Vernichtungsmaschinerie mitverantwortlich war

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picture alliance / dpa | Sebastian Widmann

Es sei einem Angeklagten nicht nachzuweisen, »dass er die Massenvernichtung der Juden sich innerlich voll zu eigen gemacht« habe, so eine typische Formulierung. Anstatt dem Vorliegen niedriger Beweggründe auch nur nachzugehen, stellten die Staatsanwaltschaften im Anschluss an das Urteil des Bundesgerichtshofs zahlreiche Ermittlungen ein. Es mag eine Rolle gespielt haben, dass es sich um vergleichsweise viele Verfahren handelte, deren man sich bei entsprechender Auslegung auf einen Schlag entledigen konnte. Und auch Ende der sechziger Jahre gab es in der Justiz noch zahlreiche ehemalige Nazis, auf deren Wohlwollen die Beschuldigten hoffen konnten.

Dass es sich um eine Verschwörung in Ministerien und Justiz zugunsten der NS-Beschuldigten handelte, lässt sich auch aufgrund seltsam lückenhafter Akten kaum beweisen. Womöglich traf einfach ein willkommener Anlass auf ein von vielen Seiten gewünschtes Ergebnis. Etwas banal, aber für den Umgang der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Nazi-Erbe nicht weniger bezeichnend.

So willkürlich die Rechtsfolgen dieses Verjährungsskandals – man sprach auch von »kalter Verjährung« – auch waren: Ganz erledigt hatte sich die Strafverfolgung der NS-Verbrechen damit freilich noch nicht. Die Mordmerkmale »heim­tückisch« und »grausam« galten weiterhin als tatbezogen, sie sind keine besonderen persönlichen Merkmale im Sinne des EGOWiG. Den sogenannten (teils eigenhändig tötenden) Gehilfen musste insoweit nur nachgewiesen werden, dass sie von den objektiven Tatumständen gewusst haben.

Bei den in den Gaskammern der Vernichtungslager begangenen Morden wurde grundsätzlich von heimtückischer Tatbegehung ausgegangen. Dies ermöglichte nach der Abschaffung der Verjährung bei Mord schließlich auch die Strafverfahren der jüngeren Zeit gegen KZ-Aufseher wie John Demjanjuk oder Oskar Gröning – während doch Jahrzehnte zuvor viele Beschuldigte wie durch Zauberhand straffrei ausgegangen waren.