Schallplatten, die keiner bestellt hat

Musik für Ethnologen

Berlin-Friedrichshain an einem Februarabend. Das neue Ding sind Wohnzimmerkonzerte, die hier und dort immer mal wieder stattfinden. Die Menschen sind nett zu dir, man hockt zusammen, trinkt Berliner Pilsner aus 0,5-Liter-Flaschen und plaudert. Irgendwo macht wer Musik oder so. Aber nicht zu laut, jetzt nicht wegen der Nachbarn, die sind schließlich auch alle da, aber man ist hier zu Hause. Man singt über Dinge, die man lieber ins Tagebuch hätte schreiben sollen. Alle Jungens sind in der Schule immer als letzter in die Fußballmannschaft gewählt worden. Keine Ahnung, warum das so sein muß. Das Trauma einer Generation, der nichts als Scheitern übrig bleibt. Da ist es cool, ein Außenseiter zu sein, von der Gemeinschaft nicht geliebt, verstoßen. Wer es nicht ist, gehört auch nicht dazu.

Das Sich-ungenügend-Fühlen wird hier zum Distinktionswert erhoben. Dazu muß aber zunächst ein eigenes Aktionsfeld geschaffen werden, auf dem man ein Popstar sein kann, wenn einem gerade danach ist: das eigene Wohnzimmer. Die wohl bekannteste Band aus diesem Umfeld heißt daher paradigmatisch Wohnung. Die anderen, die auf der Compilation "Musik fürs Wohnzimmer" zusammengestellt sind, heißen so ähnlich. Und der Musiksender Viva verdoppelt den Effekt, indem er an einem ganzen Abend die Musik aus Wohnzimmern in andere Wohnzimmer überträgt.

Wenn man es recht bedenkt, funktioniert das "We are one family" nämlich draußen auf der Straße des 17. Juni gar nicht so richtig, sondern nur daheim bei der Familie. Wärme und Geborgenheit sind garantiert und eine Musik, gegen die Lo-Fi schon ganz schön ausgeklügelt war. Eine Vier-Spur-Maschine ist doch viel zu kompliziert - ich versuch's mal auf meinem alten Atari. So sitzen sie jeder für sich und alle zusammen allein im Wohnzimmer. Einsam wie ein Cowboy.

Ein Cowboy wie Jimmie Rodgers zum Beispiel. Er machte in den dreißiger Jahren das Jodeln in der Country-Musik populär. In seiner sechsjährigen Schallplattenkarriere nahm er 111 Songs auf, von denen ganze sechs jodelfrei waren. Selbst beim Sprechen soll Rodgers gejodelt haben.

Dem Phänomen des Jodelns in der Popmusik geht der Sampler "American Yodeling 1911-1946" anhand von 26 ausgewählten Klangbeispielen nach. Schon im frühen 19. Jahrhundert läßt sich der alpine Stimmüberschlag in der amerikanischen Country-Musik nachweisen. Ein Relikt aus der Tätigkeit in Hirten- und Jägerkulturen. Damals gab es nämlich noch gar keine Wohnzimmer, die Menschen standen einsam auf dem flachen Land herum und jodelten einander zu. Durch einen plötzlichen Boom in den dreißiger Jahren eroberte sich der Jodler dann seinen Platz in der Populärkultur.

Weil es seit der Auflösung des Martin Dieselhorst Vierers außer Johnny Cash eigentlich gar keine Country-Musik mehr gibt, ist die Zusammenstellung retrospektiv angelegt. Spektakulär ist die Aufnahme des George P. Watson-Jodlers von 1911, den später auch Jimmie Rodgers eingespielt hat und damit seinen ersten Hit landete. Rodgers starb 1933 an Tuberkulose, zwei Tage zuvor hatte er seine letzte Platte fertiggestellt. Nach jedem Jodler mußte er sich kurz aufs Bett legen, um weitermachen zu können.

So don't try this at home.

VA: Musik fürs Wohnzimmer, Monika Enterprises, 1998; VA: American Yodeling 1911-1946, Trikont, 1998