Zeit der Zeichen

Von Lévi-Strauss bis Bourdieu: François Dosse bilanziert das strukturalistische Denken

Die "Geschichte des Strukturalismus" von Fran ç ois Dosse ist sowohl Lektüre als auch Nachschlagewerk. Er porträtiert Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan, Jacques Derrida, Roland Barthes, Julia Kristeva, Louis Althusser, Michel Foucault und zeigt ihre philosophischen und persönlichen Neigungen und auch ihre Abwege auf. Wer wissen möchte, warum sowohl Lacan als auch Althusser beim Papst um eine Audienz ersuchten, oder warum gerade Althusser dem Marxismus den Stalinismus austreiben sollte, dem sei die Lektüre von Dosses Buch empfohlen.

Der strukturalistischen Vorliebe für die Synchronie zum Trotz, geht Dosse streng diachronisch vor, was sich aus der Verwobenheit des strukturalistischen Denkens mit der Zeitgeschichte Frankreichs erklärt. In Frankreich äußerte sich der Geschichtspessimismus anders als im Land der Endlösung. Der Optimismus der Aufklärung blieb "in den Knochenhaufen von Auschwitz und unter den Ruinen von Hiroshima, und jeder Versuch, ihn wiederzubeleben, wäre nur Hohn und Beleidigung", bemerkte Emmanuel Terray in "Lettres ˆ la fugitive". Ähnlich formulierte Gedanken findet man bei Derrida, Lévinas und Lyotard. Der Strukturalismus ist nicht zuletzt als Versuch vieler Linksintellektueller zu verstehen, das Unbewußte der kollektiven Praktiken nach dem Faschismus zu verstehen. Sie verabschieden sich vom Subjekt, dem abendländischen Vernunftbegriff und der Bewußtseinsphilosophie von Descartes bis Hegel.

Zunächst wird der Strukturalismus mit einer Person identifiziert: Claude Lévi-Strauss. Seine Arbeiten knüpfen gewissermaßen an die "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer an: "Ich glaube, all die Tragödien, die wir erlebt haben, erst mit dem Kolonialismus, dann mit dem Faschismus und zuletzt mit den Vernichtungslagern, stehen nicht im Gegensatz oder im Widerspruch zu dem angeblichen Humanismus in der Form, wie wir ihn seit mehreren Jahrhunderten praktizieren, sondern sie sind, möchte ich sagen, fast seine natürliche Folge."

Sein Theorie basiert auf Marx, Freud und der Geologie. Für Lévi-Strauss existieren zwei gleichberechtigte Denksysteme: das wilde Denken, das sich in Zeichen und nicht in Konzepten ausdrückt, und das wissenschaftliche Denken. Beide Denkmuster seien gleich strukturiert und in der Lage, zu verallgemeinern und Analogien zu bilden. Lévi-Strauss erkennt, daß die primitiven Mythen und Rituale einer Realität und Ordnung gehorchen, die bisher ignoriert wurde. Er verneint eine historische Totalität und sieht eine Vielheit von nicht an ein zentrales Subjekt gebundenen Geschichten. Das Subjekt bedeutet für Lévi-Strauss ein erkenntnistheoretisches Hindernis: "Die Mythen haben keinen Autor" ("Le Cru et le Cuit"). Das Subjekt sei dezentriert und dominiert. Es stellt für ihn eine methodologische Notwendigkeit dar, das Subjekt zurückzustellen, um die Struktur der Mythen erforschen zu können.

In seinem 1952 veröffentlichten Text "Rasse und Geschlecht" richtet sich Lévi-Strauss gegen rassistische Vorurteile. Es wird schnell zum Handbuch der Antirassisten. Lévi-Strauss sieht in jeder Gesellschaft den Ausdruck eines konkreten Universellen. Er wendet sich dabei strikt gegen jede Hierarchie in der Beurteilung von Zivilisationen.

Mit seinem 1953 erschienenen Werk "Am Nullpunkt der Literatur" erwies sich Roland Barthes als der flexibelste Theoretiker des Strukturalismus.

Barthes definiert den Strukturalismus als eine Tätigkeit: "Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit (Ö) besteht darin, ein 'Objekt' derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert. Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts." Barthes verlangt, daß die Literatur nicht mehr nach ihrem Inhalt, sondern nach ihrer Form beurteilt wird. Seine literaturwissenschaftlichen Untersuchungen basieren auf der strikten Abstraktion vom Autor. Er verlagert das Subjekt auf die Sprache, die den Autor als Subjekt ablöst. Die Sprache wird vom Mittel zum Zweck, identifiziert mit der wiedererreichten Freiheit. Als vergnüglicher Ideologiekritiker demaskiert er Ideologie am liebsten in ihrer literarischen Form: "Die Modernität gibt mit der Vielfalt ihrer Schreibweisen die Sackgasse ihrer eigenen Geschichte zu erkennen."

Die Kehrseite der abendländischen Vernunft beleuchtet Michel Foucault in "Wahnsinn und Gesellschaft". Seine Schrift markiert einen Bruch mit der Geschichte des abendländischen Subjektes, dem der Autor seinen vergessenen und verstoßenen Doppelgänger entgegenhält. Foucault erreicht mit seinen Arbeiten einen neuen kritischen Blick auf die Geschichte und damit eine schärfere Sicht auf die Gegenwart. Anfang der fünfziger Jahre folgt er gespannt den Vorlesungen seines Lehrers Louis Althusser. Über ihn findet er zur kommunistischen Partei. Als er 1953 vom Tode Stalins erfährt, soll er bitterlich geweint haben.

Die Zeit von 1956 bis 1968 war in Frankreich von den verlorenen Illusionen über den Staatskapitalismus, die KPF und deren institutionellen Marxismus geprägt. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes stellte sich mancher Linker die Frage, wie man noch Marxist bleiben könne. 1956 entstand auf Initiative von Cornélius Castoriadis und Claude Lefort die Gruppe "Sozialismus oder Barbarei". Castoriadis kritisiert den Strukturalismus als Anpassung an den modernen Kapitalismus und als Vertreter eines technokratischen Denkens.

Dennoch profitiert der Strukturalismus von der Krise des traditionellen Marxismus. Henri Lefèbvre, Lucien Goldmann, Jean Piaget, Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser u.a. versuchen den Marxismus durch neue Fragestellungen und Forschungsgebiete zu modernisieren. Die strukturalistische Absicht ist zu diesem Zeitpunkt eindeutig ideologiekritisch, weil sie durch ihr Vorgehen einen unumstößlichen, als zweite Natur sich gerierenden Sinn in Frage stellt. Der Strukturalismus ist auch Ausdruck einer Verlagerung der kritischen Aktivitäten. Die Revolte betrifft "wirklich das Ganze, das Gewebe unserer Evidenzen, das heißt das, was man die westliche Zivilisation nennen könnte".

"Mao-Denken, Lacan-Denken, Althusser-Denken mit vereinigten Kräften gegen das 'Moa'-Denken (Moi - Ich)".

Es fällt auf, daß die Politisierung der Strukturalisten eng an den Stalinismus gekoppelt blieb. Die verschiedenen intellektuellen Zirkel der KPF - wie die Zeitschrift Les Lettres fran ç aises, herausgegeben von Louis Aragon und Pierre Daix - zeigten sich zunächst offen für die neuen Fragestellungen. Witzig ist, daß die in Frankreich doch sehr minoritäre maoistische Strömung kurzfristig großen Einfluß auf führende Köpfe des Strukturalismus ausübte, was in einer Reise nach China kulminierte. Die radikalste prochinesische Zelle Frankreichs wurde die 1960 gegründete Zeitschrift Tel Quel. Althussers zentrale Rolle in der strukturalistischen Debatte war politisch an eine Modernisierung des KPF-Diskurses gekoppelt.

Althusser hat es geschafft, im Allerheiligsten der Eliteproduktion - die ENS, in der Rue d'Ulm - Marx auf den Lektüreplan zu setzten. Die Rue d'Ulm wird schnell zum Hauptquartier der Kritik am traditionellen Unibetrieb und am traditionellen Marxismus der KPF. "Ziehen die strukturalistischen Linguisten gegen das Schema von Mensch und Werk zu Felde, umschiffen die Anthropologen und Psychoanalytiker die Bewußtseinsmodelle, so werden sich die Althusserianer den Humanismus vornehmen, der als Brimborium aus den abgelaufenen Zeiten der siegreichen Bourgeoisie freudig zu Grabe getragen wird." Bei Althusser rückt an die Stelle des entschwundenen Subjekts und seiner Geschichtlichkeit der Strukturzustand. Die Ideologie wird das neue Subjekt der Geschichte, das wahre Subjekt des Diskurses. Althusser zerlegt den Geschichtsbegriff in heterogene Einzelheiten, ohne ihn dabei aufzugeben.

Die Thematisierung des Marxismus im Rahmen des Strukturalismus rettet ihn vor dem Verfall. Das Bedürfnis, vom stalinistischen Marxismus wegzukommen, war groß. Diese Rolle fällt überraschenderweise zunächst Althusser zu. Sein 1965 erschienenes Werk "Für Marx" wird in 32 000 Exemplaren verkauft. Mitte der sechziger Jahre steht Marx im Schnittpunkt aller Forschungen. Althusser verbindet mit der Veröffentlichung von "Freud und Lacan" 1964 die Psychoanalye mit dem Marxismus.

Die größte gesellschaftliche Bewegung, die Frankreich je erlebte, mit zehn Millionen Streikenden, hat wenig mit der Theorie vom unterworfenen Subjekt und seiner Selbstregulierung zu tun. Die Strukturalisten waren, wie alle anderen auch, überrascht und entwaffnet zugleich: "Von 1968 bis 1972 war alles in Frage gestellt. Ich weiß nicht, wie ich mein eigenes Seminar habe ertragen können, denn die Durchführung eines wissenschaftlichen Vorhabens schien lachhaft angesichts von Leuten, die mit verbalem Terrorismus alles zur Ideologie erklärten." (Julien Greimas)

Fran ç ois Dosse stellt die These auf, daß der unaufhaltsame Niedergang des strukturalistischen Paradigmas das Ergebnis der 68er-Ereignisse sei. Persönlich reagieren die Strukturalisten mit Abneigung auf die Revolte. So notierte Jacques Lacan: "Für mich war es eine Bewegung gegen die Universität. Man zog über Professoren her, die man im Namen eines anderen Wissens schwachsinnig fand." Der Mai 1968 zerschlägt vor allem das Konzept von der Geschlossenheit der Struktur. Obgleich der Niedergang des Strukturalismus nach dem Mai 1968 einsetzt, war er zunächst der Nutznießer der Bewegung. Der Mai verhilft der Psychoanalyse zum Einzug in die Universitäten. Der universitäre Erfolg des Strukturalismus ist auch ein Ergebnis des gesellschaftlichen Scheiterns der Ideen von 1968. Die Revolte bewirkt, daß sich das strukturalistische Denken wieder mehr um das Subjekt und die Geschichte bemüht. Doch das zurückgekehrte Subjekt ist ein gespaltenes, das sich selbst fremd geworden ist.

1972 entsteht aus der strukturalistischen Schule selbst eine radikale Kritik, auf die Fran ç ois Dosse allerdings kaum eingeht. Gilles Deleuze, manchmal gemeinsam mit Felix Guattari, meistens allein und dann besser, wirft dem Strukturalismus sein Verharren in der bürgerlichen Philosophiegeschichte und der Psychoanalyse vor.

1975 kehrt der Konformismus in Gesellschaft und Universität wieder an die Oberfläche zurück. Jetzt zeigt sich, daß der Strukturalismus eher Meisterdenker statt einer Schule hervorgebracht hat. Der Versuch, sich von der Philosophie zu emanzipieren, war zwar geglückt, aber ohne theoretische Alternative. Pierre Bourdieu, einem der wenigen strukturalistischen Soziologen, war dieses Problem bewußt, als er den Begriff des "Habitus" einführte: "Der Begriff des Habitus geht auf Aristoteles zurück und wurde von Thomas von Aquin und später von der soziologischen Strömung von Weber bis Durkheim aufgegriffen. In der aristotelischen Tradition gehört der Habitus zum Bewußtsein und untersteht insofern den Handhabungen und Maßgaben des menschlichen Willens. Bourdieu hingegen will aus seiner völligen Neudefinition des Habitus ein Paradigma gewinnen, das den Rekurs auf den Gegensatz von Bewußtem und Unbewußtem umgeht: Mit ihm läßt sich von Strategien sprechen, jedoch im Sinne von Intentionalitäten ohne Intention."

Bourdieu erstreckt den Klassenbegriff auf den gesamten Bereich des Symbolischen. Damit dreht er den Sartreschen Subjektbegriff einfach um. Sartres Existenzialismus denkt ein konstituierendes, transzendentes, allmächtiges und abstraktes Subjekt, von dem Sinn ausgeht. Das Subjekt bei Bourdieu dagegen sei seinem sozialen Schicksal unterworfen. Außerhalb dessen verliere es sich im Diskurs, um sein Scheitern zu verbergen: "Das Subjekt wäre nichts anderes als die Summe seiner Verzichtleistungen."

Ende der siebziger Jahre sind Strukturalismus und Marxismus auf dem Rückzug. Auch die Lehrpläne in den Schulen und Universitäten kehren umstandslos zur Tradition zurück. Das Dreigestirn Marx-Freud-Nietzsche zerfällt zusehends. Fran ç ois Dosse legt überzeugend dar, daß der Begriff der Struktur vor allem ein Mittel der Erkenntnis sein kann. Gleichwohl neigt der Strukturalismus sowohl zu einer Ideologisierung des wissenschaftlichen Diskurses als auch zu einer Ontologie der Struktur als unbewußter Infrastruktur. Die Beschäftigung mit dem strukturalistischen Denken befördert die Einsicht, daß die Erkenntnis der Realität nur eine Konstruktion, aber kein Abbild sein kann. Vielleicht hat der Strukturalimsus einen kleinen geheimen Sieg in den Köpfen errungen. Denn wer sich einmal damit befaßt hat, liest einen Text - gleich welcher Art - nicht mehr wie zuvor.

Fran ç ois Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 1: Das Feld des Zeichens. 1945 bis 1966. 618 S.; Bd. 2: Die Zeichen der Zeit. 1967 bis 1991. 619 S. Junius, Hamburg 1998, jeder Band DM 148