Polen wehrt sich gegen deutsche Ansprüche

»Überspitzt und erpresserisch«

Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn die Bundesregierung auf der einen Seite Entschädigungsansprüche griechischer und polnischer NS-Opfer als "verjährt" zurückweist und auf der anderen Seite die Rückgabeansprüche von Deutschen, die auf Beschluß der Siegermächte nach 1945 aus Polen und der damaligen Tschechoslowakei ausgewiesen wurden, nach wie vor für aktuell hält. Der Bundestag hatte am 29. Mai in einer Resolution sogar den EU-Beitritt von Polen und Tschechien mit Zugeständnissen der beiden Länder an die sogenannten Heimatvertriebenen in Verbindung gebracht.

Daß Deutschland das einzige Land ist, das in der massenhaften Umsiedlung nach dem Krieg eine "Vertreibung" sieht, störte den Bundestag nicht: Schließlich hat man ja in Europa das Sagen. Während überlebende NS-Opfer erst jahrzehntelang zu früh kamen - erst müsse ein Friedensvertrag geschlossen werden, argumentierte Deutschland damals -, kommen sie jetzt zu spät. Dagegen kommen die Sudetendeutschen, Ostpommern, Schlesier und wie sie alle heißen der deutschen Politik gerade recht - als Ausdruck des deutschen Anspruchs auf eine Vormachtstellung in Europa.

Voraussetzung dafür ist der Schlußstrich unter die NS-Vergangenheit, und der wird juristisch mit dem Begriff "Verjährung" gezogen. In Griechenland, Polen und einigen anderen ehemals besetzten Ländern sieht man das anders. Seit der deutschen Vereinigung kämpfen ehemalige Nazi-Verfolgte dort für eine angemessene Rentenregelung. 1990 war die Entschädigungsfrage wieder offen, denn das Londoner Schuldenabkommen, das Westdeutschland von Reparationen und Entschädigungen weitgehend befreite, war mit dem 2-plus-4-Vertrag hinfällig geworden. Erstmals war es möglich, auf individuelle Entschädigung zu klagen. Von diesem Recht machten in den letzten Jahren zum Beispiel etwa 100 000 Griechinnen und Griechen Gebrauch. Nachdem im Oktober 1997 schon ein Gericht in Livadia einer Sammelklage entsprochen hatte, sprach in der vergangenen Woche ein Gericht in Aigion 700 Klägern rund 32 Milliarden Mark zu.

Diese Verfahren sind nach Auffassung der Bundesregierung schlicht "völkerrechtswidrig". 1960 seien 115 Millionen Mark an Griechenland gezahlt worden, damit sei die Sache erledigt. Dabei wurde allein der materielle Schaden der deutschen Besatzung von den Alliierten 1946 auf etwa zehn Milliarden Mark geschätzt.

Die Bundesregierung kann sich erlauben, die griechischen Forderungen einfach zu übergehen. Gegenüber Polen kann sie nicht ganz so unverfroren agieren. Vor dem jüngsten Besuch Kohls forderten ehemalige Zwangsarbeiter vom polnischen Ministerpräsidenten, dem deutschen Bundeskanzler nicht die Hand zu reichen, bis eine Entschädigungsregelung erreicht ist. Von den 730 000 registrierten polnischen NS-Verfolgten haben bisher 500 000 lediglich eine einmalige "humanitäre Hilfe" von 480 Mark erhalten.

Den Bundestagsbeschluß vom Mai wies der Sejm, das polnische Parlament, am vergangenen Freitag nahezu einstimmig zurück und erkannte darin "gefährliche Tendenzen". "Unsere Teilnahme an der Union muß auch die Unantastbarkeit der polnischen Grenzen bedeuten, die von allen unseren Nachbarn bestätigt wurden, sowie die Unantastbarkeit der polnischen Eigentumsrechte an Immobilien." Der polnische Außenminister Wladyslaw Bartozewski nannte die deutschen Forderungen "überspitzt und erpresserisch".

Polen befindet sich allerdings in einer weitgehenden ökonomischen Abhängigkeit von Deutschland. So werden die deutschen Dreistigkeiten auch nur defensiv zurückgewiesen. Im Gegensatz zu Polen hat Deutschland die Macht, seine Interessen in den EU-Beitrittsverhandlungen Nachdruck zu verleihen. Und nur als Frontstaat der EU kann Polen darauf rechnen, von ihr alimentiert zu werden.

Insofern ist die Frage, wer sich durchsetzen wird, fast schon entschieden. Nur die kollektive Erinnerung an die deutsche Besatzung in vielen europäischen Ländern bremst noch die deutschen Ansprüche. Da kommt der Beschluß des flämischen Regionalparlaments, belgische Nazi-Kollaborateure für nach 1945 erlittene "Nachteile" mit je etwa 4 000 Mark zu entschädigen, zur rechten Zeit.