63. Zwei alte Männer im Kaffeehaus

Fortgesetzte Erzählung

Die Frau war dünn und groß und um die dreißig. Eindeutig unterernährt und irgendwie weggetreten, fand Herr Dippel, den wir in unserer Jugend Motze nannten, und dann noch rote Haare.

Es war einer der letzten schönen Tage des Sommers '98, in dem es kaum schöne Tage gab, und Motze hatte seinen Spitzkühler zwischen sich und einen der zierlichen runden Tische gequetscht in der Hoffnung auf ein paar Frauenbeine und viel Décolleté.

Triefende Altmänneraugen, Haare aus den Ohren und die Lippe links schon was steif, seit dem Ärger mit seiner Frau, die aber auch aus dem Banat stammte. Sollte sie doch sehn, wie sie glücklich wurde mit all dem Geld, das sie ihm abgeluchst hatte in vierzig Ehejahren. Falscher Fuffziger.

Er saß also in diesem Straßencafé und genoß die Gegend. Von hier aus hatte man einen schönen Blick auf Kuckis Wettannahme und weitere 26 Gasthäuser: Restaurants, Diskotheken, Abfüllschuppen, Weinlokale, Bistros und eine stinkende Imbißbude, vor der immer abwechselnd eine nette alte Frau oder ein heiterer alter Mann saßen. Vielleicht stank es drin noch mehr.

Die Imbißbudenfrau hatte eine schmuddeliges Handtuch um den Bauch und ein müdes Lächeln um die Lippen, während ihr Mann gekleidet war wie ein Privatgelehrter von damals und immer mit Hut.

Bene. Motze betrachtete eine Weile den Kiosk Nr. 98, der von zwei Dutzend Berbern, die darauf warteten, in der Abt Anno-Straße einzuchecken, belagert wurde. Genau gesagt, im kirchlichen Nachtasyl, das gegen 17 Uhr öffnete. Wer bis dahin nicht breit war, schlief lang nicht gut.

Die junge Frau überquerte den Boulevard, ohne in die Scheiße zu treten, was eine gute Leistung war. Der kürzlich zwecks Verbesserung der Lebensqualität der Südstadtköter angelegte Mittelstreifen mit Blumenrabatten zu beiden Seiten, Bänken und neuen Bäumen, war immer völlig zugeschissen. Die Frau stand einen Moment am Bürgersteig, schaute kurz links, kurz rechts und warf was in den Gulli.

Auf dem Mittelstreifen erschien jetzt ein prächtiger Schnäuzer mit Stiefeletten und eiskalten Augen, und von links und rechts kamen noch zwei Kerle. Ein vollfetter, senfgelber Overall und ein Marathonmann mit Baseballkappe.

Rote Augen, kein Arsch. Wenn Motze etwas nicht leiden konnte, dann Männer ohne Arsch, kurz: MOA, im Overall mit Schnäuzer und Baseballkappe, die einen eiskalt niederschlagen, bloß wegen der fünf Mark, die man in der Tasche hat. Totschlag für einen Flachmann oder den nächsten Druck, das war typisch Südstadt, fand Motze. Wäre er man in Hofacker geblieben.

Der MOA griff sich die junge Frau und warf sie neben dem Café, gegen die Wand. Sie rutschte die Wand runter und ließ den Kopf hängen, stand aber wieder grade, als er sich ihre Haare um die Hand wickelte und sie wieder hochzog und zur Wand drehte. Dabei bellte er trocken:

"Beine breit, Arme hoch" und "Galli, guck mal im Gulli!"

Der senfgelbe Overall sagte: "Ei, ei, Captain!", keine zwei Meter vor Motze, und versuchte, den Gulli zu öffnen. Die junge Frau spreizte die Beine, hob die Arme und sagte auch nichts, als Captain MOA sagte, nicht sehr laut: "Was hast du da reingeschmissen? Gib zu, du hast was reingeschmissen!" Und zu Galli gewandt: "Was is'? Hast du die Bombe?"

Galli rüttelte am Gitter über dem Gulli, und Captain MOA nestelte in seinem Rücken unter der Jeansjacke und legte der Frau Handschellen an. Herr Dippel griff nach seinem Schnapsglas und winkte der Kellnerin, die ihn jedoch nicht bemerkte. Captain Marathon betätschelte die Innenseiten der Schenkel der Dürren und Galli sagte:

"Das Scheißding geht nicht auf."

Im Mattogrosso und den umliegenden Kneipen, im Schröders, im Opera und so weiter hatte der Vorfall sich inzwischen so weit rumgesprochen, daß dem Überfallkommando volle Beachtung geschenkt wurde. Erschrocken war niemand, und eingeschritten seitens des Publikums wurde erst recht nicht, auch wenn völlig klar war, daß die Szene was Ambivalentes hatte.

Entweder handelte es sich um die innere Angelegenheit einer Gruppe von Rauschgifthändlern, oder die Schlanke, die hochhackige Pumps und enge schwarze Leggins trug und ein T-Shirt mit der Aufschrift Nimm zwei, hatte einem der drei Typen die Sonnenbrille geklaut und sie in den Gulli geworfen, aber es konnte sich bei den drei versifften Typen natürlich auch um Agenten des BND, die einer Agentin des VS auf der Spur waren, handeln, und dann war die Bombe, die Frau Nimmzwei in den Gulli geworfen hatte, eventuell eine Plutoniumprobe.

Solange diese Fragen nicht geklärt waren, bestand kein Anlaß zur Sorge, zumal die Magere jetzt vor der Hauswand hockte, als hätte sie mit der ganzen Sache nichts zu tun, wodurch das öffentliche Interesse spürbar nachließ. Die Bomberjacke holte ein Handy raus und begann zu telefonieren. Das gab der Aufmerksamkeit den Rest. Telefonate sind immer ein dramaturgischer Mißgriff. In guten Filmen wissen die Akteure ohne Telefon, was ansteht.

Auch Herr Dippel wandte sich wieder anderen Interessen zu. Er beäugte mißmutig seinen alten Kumpel Modder, der drei Tische weiter saß und in einem Schuhkarton wühlte. Modder nahm einen Zettel raus, schüttelte den Kopf und legte ihn wieder in den Karton. Der Karton war voller Zettel.

Modder tat immer so, als würde er arbeiten, wenn Motze ihn sah, und Motze verübelte ihm auch, daß er mal in einem seiner stinklangweiligen Romane die Episode verwurstet hatte, wie kurz vor '33 die Nazis den Saal des Hotels, das der Familie Dippel seit vier Generationen gehört hatte, gestürmt hatten, und Modder, der zufällig in Hofacker zu tun hatte, zu ihm gesagt hatte:

"Du, kein Problem, Motze, ich könnte in meiner Stammkneipe fragen, ob sie keinen Kellner brauchen."

Motze erschrak, als er bemerkte, wie sehr der Satz, in dem sein Gedanke sich verheddert hatte, zu mißraten drohte, und vergaß vor Schreck, was er hatte denken wollen, als er anfing darüber nachzudenken, was Modder über den Angriff der örtlichen Nazis auf den Saal des Deutschen Kaisers, bei dem ein halbes Dutzend Sozialdemokraten aus dem Fenster fiel und auf dem Misthaufen landete, der auch weg war, als ich Hofacker das letzte Mal besuchte, geschrieben hatte.

"Unangenehme Erinnerungen", murmelte er, "unangenehme Erinnerungen", ohne zu überlegen, was unangenehmer war. Das Ereignis kurz vor '33 oder Modders Schilderung desselben in einem Roman oder das Mißraten seines Satzes darüber.

Captain MOA hatte jetzt eine Pappschachtel mit einem großen Burger in der Hand, nahm den Burger, biß rein und legte ihn zurück in die Pappschachtel. Der Schnäuzer telefonierte noch immer und wippte in den Knien. Der senfgelbe Overall kam vom Kiosk Nr. 98 und schlotzte ein Eis. Zwischendurch schloß Captain MOA die Handschellen auf, und die Ranke ging zwischen den Kaffeehaustischen hin und her.

Herr Dippel registrierte mißmutig, daß sie wenig Busen hatte. "Also auch noch falsch beschriftet."

Vor Modders Tisch blieb das Mädchen stehn, sagte etwas, und Modder nickte. Sie setzte sich zu ihm und zündete sich eine Zigarette an. Herr Dippel haderte. Da versuchte dieser halbintellektuelle Pseudoliterat auch noch, dieses arglose Kind übern Tisch zu ziehen.

Herr Dippel war jetzt ehrlich daran interessiert, daß endlich ein Polizeiauto aufkreuzte, aber nichts passierte. Mal rührte das Mädchen in seiner Kaffeetasse, mal nahm Modder einen neuen Zettel aus seiner Kiste, und manchmal redeten sie auch miteinander.

Die drei Gangster saßen auf dem Mittelstreifen, rauchten und tranken Bier, als Modder und das Mädchen nach etwa einer halben Stunde aufstanden, den Ring überquerten und um die Ecke bogen, obwohl Modder gleich über der Wettannahme wohnte. Es war wirklich frustrierend, und Motze fragte sich ernsthaft, warum er jeden Nachmittag im Mattogrosso sitzen mußte. Irgendwie machte die ganze Sache keinen Spaß.

(Nächste Woche: "Zettels Traum")