Kleistern für Le Fuehrer

Die Urteile gegen den Front National häufen sich, die Annäherungsversuche bürgerlicher Politiker auch

Es sollte die "größte Plakatieraktion in der Geschichte der Partei" werden: 40 000 Plakate haben Jean-Marie Le Pen und sein Front National (FN) drucken und angeblich innerhalb von einer Nacht kleben lassen, um auf das nach seinen Worten "skandalöse" Urteil des Appellationshofs (Berufungsgerichts) von Versailles zu reagieren.

Das gesamte Politische Büro, die höchste Führungsinstanz der rechtsextremen Partei, mußte mit Hand anlegen. Und auch der Boß selbst griff zum Kleistereimer. Überall in Frankreich sollte man die Plakate mit dem Konterfei des FN-Chefs und der Aufschrift "Die Justiz kuscht, Le Pen steht aufrecht" sehen.

Am Dienstag vergangener Woche hatte das Versailler Gericht sein Urteil über die verbale und physische Attacke des neofaschistischen Führers auf eine sozialistische Parlamentskandidatin im Vorjahr (Jungle World, Nr. 41/1998) gefällt. Die Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung wurde beibehalten, die Dauer des Entzugs der bürgerlichen Ehrenrechte und damit des passiven Wahlrechts wurde gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil auf ein Jahr halbiert.

Mit Rechtskraft des Urteils wäre Le Pen der Weg versperrt gewesen, bei den kommenden Europaparlamentswahlen am 13. Juni 1999 als FN-Spitzenkandidat anzutreten. Am Freitag jedoch gab Le Pen bekannt, das Urteil in letzter Instanz vor dem Kassationshof anzufechten. Das ist nicht ohne Risiko für ihn: Je nach Zeitdauer, die das Verfahren nun anhängig sein wird, könnte er für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 unwählbar sein.

Diese Perspektive ließ ihn lange zögern. Doch schließlich blieb ihm keine andere Wahl - zu laut wurde das Verlangen seines Stellvertreters und Anwärters auf die Nachfolge an der Parteispitze, Bruno Mégret, im Falle einer "Verhinderung" seines Chefs die Spitzenkandidatur bei den Europawahlen zu übernehmen.

Dem "elitären Technokraten" Mégret, wie ihn seine parteiinternen Gegner nennen, steht der alte Haudegen Le Pen entgegen, der auch als Parteichef nicht davor zurückschreckt, gelegentlich Schläge auszuteilen. Die in Versailles abgeurteilte Gewalttat ist jedoch nicht die einzige und auch nicht die schwerste, die auf das Konto des FN geht. Allein in diesem Jahr fanden mehrere Mordprozesse statt, in welche der FN als Organisation verwickelt war:

Am 15. Mai wurden vier ehemalige Skinheads wegen des Mordes an dem Marokkaner Brahim Bouarram verurteilt, der am 1. Mai 1995 während des alljährlichen Aufmarschs des FN zu Ehren der "Nationalheiligen" Jeanne d'Arc in die Seine gestoßen wurde und ertrank. Während des Prozesses kam auch die Rolle des FN-Ordnerdiensts DPS ("Abteilung Schutz und Sicherheit"), den Kritiker oft als "private Miliz" beschreiben und für den mehrere der Angeklagten tätig waren, zur Sprache. Urteil: acht Jahre Haft für den Haupttäter Mickael Freminet, je fünf Jahre Haft für die drei Komplizen.

Am 22. Juni wurden in Marseille drei FN-Mitglieder verurteilt, die in der Nacht des 21. Februar 1995 den 17jährigen Franzosen komorischer Abstammung Ibrahim Ali erschossen hatten. Ibrahim Ali wurde durch drei Kugeln in den Rücken getötet; den Ermittlungsergebnissen zufolge war er bis auf 17 Meter an den Haupttäter Robert Lagier herangelaufen, hatte nach den ersten Schüssen kehrtgemacht und war 18 Meter in die Gegenrichtung gelaufen.

Der passionierte Schütze Lagier hatte ihn also aus 35 Meter Entfernung von hinten getroffen. Die drei Täter sprachen in ihrem Prozeß übereinstimmend von Notwehr. Zu ihrer Verteidigung hatte der FN Prominenz aufgeboten: den FN-Generaldelegierten Bruno Mégret als Zeugen. Die drei Aktivisten gehörten "zur Elite unserer Landsleute", erklärte er, und falls sie sich nicht materiell in einer Notwehrlage befunden hätten, dann doch jedenfalls "in ihrem Geiste". Urteil: 15 Jahre für den Schützen Robert Lagier, zehn bzw. zwei Jahre für die beiden Komplizen.

Am 26. Juni wurden zwei Mörder zu lebenslanger Haft (Philippe Vigneaud) bzw. 20 Jahren Freiheitsentzug (Vincent Parera) verurteilt, die sich im April 1995 bei einer Wahlkampfveranstalung von Le Pen kennengelernt hatten. Die beiden Täter haben nichts miteinander gemeinsam, außer den rassistischen "Ideen", die sie vom FN, aber auch - als Doppelmitglieder - von der Neonazi-Splitterpartei PNFE aufgenommen hatten. Der 26jährige Vigneaud ist Student aus einem wohlhabenden Elternhaus; der 42jährige Parera hingegen ist ein psychopathischer Einzelgänger, der von der Gründung einer die "weiße Rasse" verherrlichenden religiösen Sekte träumt. Gemeinsam beschlossen sie im Mai 1995, "irgendeinen Ausländer" umzubringen.

Dennoch bemühen sich konservative Politiker - offen oder verdeckt - um den FN als "eine Partei wie jede andere auch". Da sich die Bürgerlichen derzeit in einem politischen Tief befinden, versprechen sie sich von Allianzen mit der extremen Rechten neue Mehrheiten. So wurden die Fraktionen der bürgerlichen Parteien in nationalen und regionalen Parlamenten in den letzten anderthalb Jahren um rund die Hälfte dezimiert - das liberal-konservative Parteienbündnis UDF etwa schickte 1997 nurmehr 106 anstatt zuvor 209 Abgeordnete in die Nationalversammlung.

Der jüngste, unübersehbare Beleg dafür wurde im September anläßlich der Senatswahlen geliefert. Die Senatoren, Mitglieder des parlamentarischen Oberhauses, werden nicht direkt von der Bevölkerung gewählt, sondern durch Wahlmänner in Gestalt von Bürgermeistern, Kommunal- und Departementsparlamentariern bestimmt - denn der Senat soll insbesondere die regionalen und lokalen Ebenen im Staate repräsentieren. Die Senatskandidaten des FN hätten, nach der Anzahl der Wahlmänner ihrer Partei, 486 Stimmen erhalten müssen. Sie bekamen 1 736.

Doch auch auf ideologischer Ebene finden Annäherungen statt. Ein jüngstes eindringliches Beispiel lieferte ein Streit, der Anfang November das nationale Statistikinstitut INSEE erschütterte und durch die Gewerkschaften CGT und CFDT nach außen getragen wurde. Eine Anzahl progressiv orientierter Mitarbeiter schlug Alarm, weil sie in der Verwendung "ethnischer" Kriterien in den Statistiken eine Gefahr für die republikanischen Prinzipien sahen. Ihrer Ansicht nach ist es unzulässig, zwischen französischen Staatsbürgern nach ihrer Herkunft oder ihrer früheren Nationalität bzw. jener ihrer Eltern und Vorfahren zu unterscheiden.

Dem wird entgegengehalten, eine solche Differenzierung sei notwendig, um eventuellen Diskriminierungen auf die Spur zu kommen: Wenn sich etwa eine Schlechterstellung von Franzosen, die aus Immigrantenfamilien stammen, gegenüber "Franzosen von Abstammung wegen" beim Zugang zu Wohnungen aufzeigen lasse. Ein Argument, das die Kritiker nicht gelten lassen. Sie wollen Diskriminierungen lieber durch bessere Ausdrucksmöglichkeiten für die Betroffenen und verstärkte Selbstbestimmung denn durch statistische Erhebungen von "oben" beikommen.

Dieser Streit stellt keine reine Expertendebatte dar, sondern birgt offensichtlich die Gefahr der Ethnisierung sozialer Problemfelder in sich. Vor zwei Wochen wurde bekannt, daß die Anhänger der "ethnischen" Kennzeichnung in den Statistiken ihre "Methode" vor einem Jahr auf einem Kolloquium präsentiert und gerechtfertigt hatten, auf dem eine illustre Mischung von Persönlichkeiten aus der Rechten anwesend war. Man traf so auf Alain Madelin, den ultraliberalen Ex-Wirtschaftsminister und Berlusconi-Nachahmer; auf Alain Griotteray, ehemaliger UDF-Politiker, der jetzt zur neuen Rechtspartei La Droite übergetreten und persönlicher Freund von Le Pen ist; auf Henry de Lesquen, Chef der "neurechten" Denkfabrik Club de l'Horloge und erklärter Befürworter einer Regierungsbeteiligung des FN; ein Mitglied des "wissenschatlichen Rats" des FN, der zugleich "Demograph" ist; und schließlich Pierre Bernard, als Bürgermeister der Pariser Vorstadt Montfermeil wegen Rassendiskriminierung verurteilt.

Diese Personenzusammenstellung, die sich fast wie die Kabinettsliste einer Rechts-Rechts-Regierung ausnimmt, war wohl nicht jedem der Kolloquiumsteilnehmer bekannt. Möglicherweise wurde mancher vom Organisator der Konferenz im unklaren gelassen:

Jacques Dup‰quier, der häufig von der FN-Parteizeitung National Hebdo und dem "neurechten" Organ Krisis zitiert wird. Aber alles in allem wäre es ein bißchen viel Zufall auf einmal, um an die politische Unschuld dieses Zusammentreffens zu glauben.