Winterhilfe für Lodenträger

Heidegger und Walser verbindet mehr als der Vorname, die Staatsangehörigkeit und der Mantel.

Daß Martin Walser selbst spricht, wenn er redet, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Wo der Schriftsteller redet, der sich als "Intellektueller" nicht bezeichnen möchte, spricht das Exemplar einer deutschen Generation, die ihre Kindheit während des Nationalsozialismus verteidigen will. Walsers Leistung besteht darin, die bislang eingehaltene Trennung zwischen dem, was die überwältigende Mehrheit der Deutschen denkt, aber nicht sagt, und dem, was diese Deutschen sagen, aber nicht denken, aufzuheben.

Indem Walser dieselben Worte verwendete, die Roman Herzog, Helmut Kohl u.a. anläßlich von Gedenktagen wie dem 9. November benutzen, sie aber in den Kontext einer "Klage eines gewissenhaften nichtjüdischen Deutschen über das schwierige Schicksal, heute ein solcher Deutscher zu sein" (Klaus von Dohnanyi) stellte, wurde die Verlogenheit jener Worte offenbar.

Walter Jens brachte es in seiner Walser-Apologie auf den Punkt: Es müsse damit Schluß sein, daß die Nachgeborenen, die "es" nicht erlebt haben, sich anmaßen, über das Verhalten ihrer Vorfahren zu urteilen. Nicht nur das Nachfragen soll tabuisiert werden: Die Interpretation der Geschichte soll denen vorbehalten sein, die "es" erlebt haben; auf höchst unterschiedliche Weise, wie Walser zu berichten weiß, der von nichts gewußt hat und "es" deswegen als "Schande" bezeichnet.

Und die paßt nun nicht mehr in den deutschen Kram. "Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz;

kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt." (Walser) Dabei handelt es sich nicht, wie die meisten Reaktionen, seien sie nun affirmativ oder kritisch, unterstellen, um Walsers Meinung oder seine Ansicht zum Thema. Walser hat in seiner Rede nicht nur keinen eigenen Gedanken geäußert, er hat nicht wirklich etwas gesagt, aber alle haben es verstanden.

"In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins", schrieb Theodor W. Adorno in seinem 1964 erschienenen Essay "Jargon der Eigentlichkeit", seiner Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und den heideggerisierenden Intellektuellen der fünfziger und sechziger Jahre. Während der Jargon "überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standardisiert wie die Welt, die er offiziell verneint; teils infolge seines Massenerfolgs, teils auch weil er seine Botschaft durch seine pure Beschaffenheit automatisch setzt und sie dadurch absperrt von der Erfahrung, die ihn beseelen soll. Er verfügt über eine Anzahl signalhaft einschnappender Wörter." "Schande" ist jetzt endgültig eines davon.

Wenn Walser die Friedenspreis-Rede als inneren Monolog beginnen ließ und auch nicht vergaß, "das Schöne" zu erwähnen, wozu ihm "Bäume" und "Sonnenuntergang" einfällt, ist das "edel und anheimelnd" in einem; wenn er sein "tiefes, menschliches Angerührtsein" fortwährend in der Formulierung der "Schande" und der Benutzung des Wortes "Ich" zum Ausdruck bringt, um in eben diesen Formulierungen das "Wegschauen" zu feiern, so ist dies der Jargon Heideggers, die Sprache der Existentiale, von denen das "Gewissen" eines ist. Und wenn Walser sich selbst zitiert und gleich zwei Mal "vor Kühnheit zitternd" deutsche Bekenntnisse ablegt, versteht man Adornos Bemerkung vom Jargon als der "Wurlitzer-Orgel des Geistes", die "das Vibrato, musikalisch einst Träger subjektiven Ausdrucks, für Reklamezwecke vermenschlicht".

Es ist die stille Rehabilitierung des Blut-und-Boden-Existentialisten, die bei Walser vollzogen wird: Dieser offensive Rückbezug auf eine Tradition, die einer ganzen Generation von Dichtern und Denkern die Anpassung an den deutschen Faschismus ermöglichte, hat nicht nur die Funktion einer nachträglichen Entlastung, denn diese Tradition war nicht verschwunden, sondern hat als Subtext der alten BRD die allgemeinen Formeln geliefert, mit denen über Auschwitz gesprochen wurde.

Dieser Rückbezug ist das Bekenntnis zu einem Begriff der deutschen Geschichte, die, indem sie den Holocaust als "Schicksalskatastrophe" (Walser) interpretiert, Auschwitz nicht länger außen vor lassen muß. Verleugnung und Verdrängung sind überflüssig geworden, wo Auschwitz es den Deutschen ermöglicht, sich als Opfer zu gerieren. Schließlich ist es nicht ihr Handeln, sondern ihr Schicksal, das zu beklagen Walser als unschuldiger Deutscher angetreten ist.

Damit allerdings übernimmt Walser das Selbstverständnis der Mörder, die die Ermordung der Juden als schicksalhaften Vollzug begriffen. Adorno formulierte es so: "In seiner Ursprünglichkeit aus zweiter Hand finden sie tatsächlich etwas wie Kontakt, vergleichbar mit dem Gefühl, in der angedrehten nationalsozialistischen Volksgemeinschaft sei für alle Artgenossen gesorgt, keiner werde vergessen: metaphysische Winterhilfe in Permanenz."

Seinen Beitrag zur Abrechnung mit Adorno lieferte Walser übrigens schon 1979 in dem von Jürgen Habermas herausgegebenen Band "Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit" (Frankfurt 1979), in dem er jene Sätze schrieb, die Ignatz Bubis in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Novemberpogroms zum Beweis anführte, daß Walser nicht erst seit dem 11. Oktober 1998 seine National-psychose pflegt: "Auschwitz. Und damit hat sich's. Verwirkt. Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden. Aber ich muß zugeben, eine rein weltliche, eine liberale, eine vom Religiösen, überhaupt vom Ich-Überschreitenden fliehende Gesellschaft kann Auschwitz nur verdrängen. Wo das Ich das Höchste ist, kann man Schuld nur verdrängen." Heute sind diese Sätze obsolet geworden, "Ich" ist nicht mehr das Höchste, wer "Ich" sagt, meint "Wir", meint Deutschland. Folglich braucht die Schuld auch nicht mehr verdrängt zu werden.

"Schlimmer als der geschmähte Jargon der Eigentlichkeit" kam Walser schon 1979 "der Jargon vor, in dem da geschmäht wurde." Walser hat die Rolle des Alten vom Todtnauberg nun übernommen; mit dem Unterschied, daß die für die fünfziger Jahre typische Verachtung der Massenkultur ihrer Affirmation gewichen ist. Hut und Lodenmantel - der Aufzug, in dem Walser sich gern fotografieren läßt, die falsche Bedächtigkeit, als dächte er über das nach, was aus ihm spricht. Es fehlt eigentlich nur noch der Schäferhund.

Je mehr Walser jedoch versucht, sich dem großen Vorbild anzugleichen, desto deutlicher wird, daß er der Wiedergänger der Tragödie als Farce ist - was ihn keineswegs harmlos macht. Walser hat längst jene Widersprüche überwunden, die ihn nach dem 9. November 1989 bewegten, nachdem er sich zeitweise in der Nähe der DKP befand und sich bei der FAZ noch andienen mußte.

Damals war es, wie Joachim Bruhn in "Was deutsch ist" (1994) schrieb, "als habe man die infantile Nation, verkörpert in Martin Walser, in genau der historischen Sekunde" ertappt, "in der die 'deutsche Frage' zum Ausrufezeichen greift und all die urdeutschen Antworten schon auf der Zunge hat, die sie gleich herausplappern wird".

In nicht einmal zehn Jahren hat Walser, von den Zumutungen einer eingebildeten Kontrolle befreit, die einen nicht sagen ließ, was man dachte, den rechten Weg gefunden: "Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst", zitiert der eine Martin den anderen, der dies 1927 in "Sein und Zeit" schrieb. Und ganz im Sinne Martin Heideggers fordert Walser am Ende seiner Rede die Eigentlichkeit ein: "Es soll einfach gehofft werden dürfen, man könne einem anderen nicht nur dadurch entsprechen, daß man sein Wissen vermehrt, seinen Standpunkt stärkt, sondern, von Sprachmensch zu Sprachmensch, auch dadurch, daß man sein Dasein streift auf eine nicht kalkulierbare, aber vielleicht erlebbare Art."

Die Vermeidung des Wortes "Intellektueller", dessen Verwendung diesen Satz zum baren Unsinn machen würde - schließlich steht das Eigenschaftswort "intellektuell" gerade für die Mehrung von Wissen und das Verteidigen von Standpunkten, eben für den Disput -, zeigt an, daß hier einer spricht, der Denken als Belastung empfindet, Bewußtsein als Zumutung. Hier sollen keine Intellektuellen, sondern "Sprachmenschen" sich in ihrem "Dasein" streifen, denn "eigentlich: kernig sei, daß der ganze Mensch rede. Dabei geschieht, was der Jargon selbst stilisiert ins 'Sich ereignen'. Kommunikation schnappt ein und wirbt für eine Wahrheit, die durchs prompte kollektive Einverständnis eher verdächtig sein müßte." (Adorno)

Indem Walser "Ich" sagt, formuliert er fürs Kollektiv: Die Erinnerung an glückliche Tage in der Volksgemeinschaft, in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel. An einen Alltag, der nichts mit dem zu tun hatte, was im Osten - oder nebenan - zum selben Zeitpunkt geschah. Es wurde Frühling, und es wurde Winter, auch im Nationalsozialismus.

Gegen die Auffassung, angesichts der Verbrechen hätte die Welt still stehen müssen, formuliert Walser die offensive Ignoranz. Der Zweck ist nicht nur die Negation jener Definitionsmacht, die der Wahrnehmung der Überlebenden zugestanden wurde, indem der deutsche Faschismus als Ganzes, als System zum Zwecke der Vernichtung gekennzeichnet wurde; es geht auch um die Negation von Theorie über Auschwitz, um die Negation der Distanz, die es braucht, um anzuerkennen, was den Ermordeten angetan wurde: Das ist der Antagonismus, den der industrielle Massenmord hervorbrachte.

Die Subjektivierung, die Auschwitz mit der Banalität relativieren will, daß das Leben weiterging, setzt das nationale Kollektiv voraus. So zog Walser mit "Schande", "Gewissen" und der Forderung nach Eigentlichkeit die Konsequenz aus der Unmöglichkeit des Verdrängens und machte diese an jenen fest, denen die deutsche Niederlage am 8. Mai 1945 Befreiung war. Indem er die Verfolgten zum Verfolgerkollektiv stilisiert, fügte Walser dem sekundären Antisemitismus, der den Juden Auschwitz nicht verzeihen will, nun öffentlich die ungehemmte Aggression hinzu. Die Unverschämtheit seiner Rede besteht nicht zuletzt darin, daß er ein Vorrecht der Überlebenden für sich in Anspruch nimmt:Unversöhnlichkeit.