Staatlichkeit durch Autonomie

Der kleine palästinensische Flickenteppich möchte einmal ein großer Palästinenserstaat werden.

Einen richtigen Anfang des israelisch-palästinensischen Konflikts gibt es nicht. Ebensowenig ist ein Ende abzusehen. Dennoch soll am 4. Mai des kommenden Jahres alles gelaufen sein: Dann endet das Interimsabkommen, das zwischen Israelis und Palästinensern im September 1993 in Oslo geschlossen wurde. "Und es ist der Tag, an dem die Palästinenser einen unabhängigen Staat ausrufen werden, falls die Gespräche scheitern", schrieb die israelische Tageszeitung Ha'aretz noch kurz vor dem Abkommen von Wye-River im Oktober dieses Jahres.

Die Gespräche scheiterten nicht. Der Staatsbesuch von US-Präsident Bill Clinton, der am Samstag abend in Israel eintraf und am Montag bei der Entfernung aller israelfeindlichen Passagen aus der PLO-Charta durch den Palästinensischen Nationalrat anwesend sein sollte, sind die Konsequenzen davon.

Auch den bis zur Änderung der Charta anhaltenden Streit über die Art und Weise, wie dies vor sich zu gehen habe, kann man als Ausläufer von Wye begreifen. Während Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf einer "richtigen Abstimmung mit Handzeichen" bestand, wollten palästinensische Politiker auf ein Votum verzichten. Schließlich kündigte der palästinensische Unterhändler Hassan Asfur einen Kompromiß an. Arafat werde die Abgeordneten fragen, ob sie den Friedensprozeß und seinen Brief an Clinton unterstützen. Die würden dann die Hände heben, aufstehen und applaudieren, was aber trotz Handzeichens nicht als formelle Abstimmung anzusehen sei.

Die 1964 bei der Gründungsversammlung der PLO in Ostjerusalem verabschiedete Charta definiert Palästina als "Heimatland des arabischen palästinensischen Volkes". Die Gründung des Staates Israel wird in Artikel 19 als "illegal" bezeichnet und dem Judentum wird abgesprochen, eine Nation bilden zu können.

Bereits seit geraumer Zeit hinfällig ist hingegen der Artikel 9, in dem als "einziger Weg, Palästina zu befreien", der "bewaffnete Kampf" genannt wird. 1988 erkannte Arafat bei einer UN-Vollversammlung schon einmal die "gesicherte Existenz Israels" an. Und 1996 modifizierte der Nationalrat die Charta - allerdings ohne sie zu veröffentlichen. Daher ist unklar, ob es sich bei der am Montag vorgelegten Änderung um den Entwurf von 1996 handelt.

Auch die seit zwei Wochen anhaltende Verweigerung der Nahrungsaufnahme von mehr als 2 000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen wird von den Hungerstreikenden mit dem Abkommen von Wye begründet: Sie begreifen sich selbst als "Kriegsgefangene", die bei den von Israel in Wye zugesagten Haftentlassungen von 500 Gefangenen - 250 wurden bereits freigelassen - gegenüber "normalen Verbrechern" bevorzugt behandelt werden wollen.

Die Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften vor, während und nach dem zehnten Jahrestag der Intifada in der vergangenen Woche, bei denen zwei palästinensische Jugendliche starben, galten allen Ereignissen zusammen: Solidaritätsaktionen mit den Hungerstreikenden vermischten sich mit Protest gegen den verzögerten israelischen Truppenabzug und die Fortsetzung der Siedlungspolitik einerseits, die als "nachgiebig" gegenüber Israel und den USA kritisierte Haltung Arafats andererseits.

In einem Flugblatt der islamistischen Terrorgruppe Hamas wurde Clinton als "Feind aller Araber und Muslime" bezeichnet und von Arafat die Freilassung des seit Oktober unter Hausarrest stehenden Hamas-Gründers Scheich Ahmed Jassin bis zum 25. Dezember gefordert. Ansonsten würde Izz el-Deen al-Quassam, der militärische Flügel der Hamas, "freigestellt, um neue Bomben-anschläge gegen die zionistische Entität und ihre Streitkräfte" durchführen zu können.

Somit wird der Druck auf Arafat größer: Immer mehr Palästinenser sympathisieren offen oder verdeckt mit der Hamas und betrachten die "Land-gegen-Frieden-Politik" als gescheitert. Hinzu kommt, daß es um die Glaubwürdigkeit und Popularität des schwer kranken PLO-Chefs bei der palästinensischen Zivilbevölkerung ohnehin nicht zum besten steht.

Auch wegen seines autoritären Führungsstils, der anhaltenden wirtschaftlichen Misere der palästinensischen Gebiete und den sich häufenden Korruptionsskandalen in der Palästinensischen Nationalen Behörde (PNA), kurz Autonomiebehörde, steht der Präsident in der Kritik. "Parasiten und Patrone würden in höchsten Chargen der palästinensischen Verwaltung herrschen", lautet der Vorwurf der Opposition gegen Arafats Autonomiebehörde seit Jahren.

Erst vor wenigen Monaten hatte die prominente Arafat-Gegnerin Hanan Ashrawi bei der neuen Kabinettsumbildung die Offerte Arafats ausgeschlagen, das Tourismusministerium zu übernehmen. Grund: Im neuen Parlament seien zahlreiche Minister vertreten, die in Korruptionsaffären verstrickt wären, so Ashrawi.

Sie warf Arafat unmittelbar nach der Kabinettsumbildung vor, Finanzuntersuchungsberichten kaum Beachtung geschenkt zu haben. "Es herrscht eine ernsthafte Vertrauenskrise zwischen der Bevölkerung und dem Parlament vor. Es gibt berechtigte Zweifel, ob das neue Kabinett dem politischen Willen der Bevölkerung überhaupt Rechnung tragen kann", sagte Ashrawi in einem Interview mit der Middle East Times.

Der palästinensische Essayist Edward Said geht noch härter mit der PLO-Führung ins Gericht. In den Autonomiegebieten würden "die Palästinenser unter Arafat von einer korrupten, inkompetenten Autokratie beherrscht, die dem Nutzen einer Handvoll seiner Busenfreunde dient", sagte er dem Spiegel.

Vor allem zwei Palästinenser sorgten in jüngster Vergangenheit wegen Bereicherung und Bestechung für Schlagzeilen: Nabil Shaath, Minister für Planung und internationale Angelegenheiten, sowie Mahmud Abbas, Arafats Stellvertreter. Nach Angaben eines parlamentarischen Untersuchungsberichts von 1997 soll Shaath rund 400 000 Dollar für Mietzahlungen und luxuriöse Ausstattungen von Amtsstuben verschwendet haben. Der Minister verfügt über vier Dienstwagen und zwölf Chauffeure für private Zwecke. Die rechte Hand Arafats, Mahmud Abbas alias Abu Mazen, ließ sich sogar für stattliche 3,5 Millionen Dollar eine Prunkvilla in Gaza bauen. Rechnungsprüfer Jarar Kudwa zieht in seinem Untersuchungsbericht eine traurige Bilanz: Insgesamt 40 Prozent des gesamten Haushalts 1997 wurden entweder komplett vergeudet oder falsch verwendet.

Edward Said sieht vor allem im Importmonopol der Autonomiebehörde den Dreh- und Angelpunkt der palästinensischen Vetternwirtschaft. An den ihnen übertragenen Einfuhrlizenzen würden sich Arafats Beamte und deren Günstlinge ständig persönlich bereichern. Auch der IWF fordert inzwischen die Aufhebung des Monopols.

Da nimmt es kaum Wunder, daß das Ansehen der Autonomiebehörde bei großen Teilen der Zivilbevölkerung gesunken ist. Nach der jüngsten Umfrage des Center for Palestine Research and Studies sind über 65 Prozent der Palästinenser davon überzeugt, daß die politischen Einrichtungen ihres Landes korrupt sind. Über die Hälfte der Befragten glaubten, daß Bestechungsfälle und Vetternwirtschaft in Palästina zukünftig eher noch zunehmen werden. Letzten August beschuldigten palästinensische Menschenrechtsorganisationen sogar den Geheimdienst, im Auftrag des Finanzministeriums Steuergelder in Höhe von zwei Millionen Dollar kassiert und unterschlagen zu haben.

Nabil Shaath sieht sich bislang jedoch nicht dazu veranlaßt, der vorherrschenden "Bakschisch"-Praxis in höchsten Regierungsämtern Einhalt zu gebieten. Wieso auch? Er wäre dann möglicherweise gezwungen, vorzeitig seinen Hut zu nehmen.

Zum Glück haben ihm die westlichen Geberstaaten neue Finanzhilfen in Höhe von über drei Millionen Dollar für seine Behörde versprochen. "Ich glaube, es sind gute Zusagen, die eine große Sympathie der internationalen Gemeinschaft zeigen. Bruder Arafat und wir alle sind froh über dieses Ergebnis", frohlockte der Minister Anfang Dezember in einem Interview mit dem offiziellen Rundfunksender "Stimme Palästinas".

Denn ohne die Hilfe von außen geht in dem von der Autonomiebehörde verwalteten Flickenteppich, der einmal Palästina werden soll, fast gar nichts. Das projektierte Staatsgebiet, das auch im Mai nächsten Jahres nicht viel mehr als den Gaza-Streifen und acht größere Städte samt Umland in der Westbank umfassen wird, ist wirtschaftlich vollständig von Israel abhängig.

Industrie und Infrastruktur - der vor einigen Wochen in Gaza eröffnete Flughafen bietet die erste Landemöglichkeit für Transport- und Passagierflugzeuge, Seehäfen fehlen bisher ganz - sind nur rudimentär vorhanden, fast alle Verkehrswege sind irgendwo unterbrochen und werden von israelischen Soldaten gesichert, die im Krisenfall allen Fahrzeugen die Weiterfahrt verweigern können. Zudem kann bei einem Boykott Israels die Wasserversorgung ganzer Regionen weitgehend unterbrochen werden. Und daran würde auch eine Staatsgründung vorläufig nichts ändern.