Schunkeln zur Shoah

In Köln schenkten alternative Karnevalisten "Kristallnachtweizen" aus.

Die Atmosphäre ist spannungsgeladen. Nur einzelne Räusper sind zu vernehmen. Im abgedunkelten Saal des E-Werks, einem Veranstaltungszentrum im Norden Kölns, harren die rund zwölfhundert BesucherInnen in erwartungsvoller Stille der Skandalszene. Die Auseinandersetzung darüber war in den Tagen davor bereits in der Lokalpresse zu verfolgen gewesen. Die Szeneband Köbes Underground intoniert den Beatles-Song "Hey Jude".

Die Kabarettisten Doro Egelhaaf und Christian Rzepka betreten die Bühne. Als "Mitglieder der Werbeagentur 'Sit and Watch'" wollen sie dem Bundesverband der Deutschen Industrie eine "Projüdische Imagekampagne" verkaufen. Motto : "Taste the feeling of Jewish Culture oder Ohne Rauch geht's auch." Was nun kommt, ist eine Kakophonie von neudeutschem Werbeslang und Spekulation auf Juden-Witze in den Köpfen der Zuschauer, die einigen im Saal schier den Atem verschlägt.

"Zielgruppensegmentiert" werden für die "Kids" die neuen Fruchtgummi "Jüd Süß" angeboten, für Jugendliche "Jüdische Wochen bei McDonald's" und für das nächste Oktoberfest ein erfrischendes "Kristallnachtweizen". Die Kleinen sollen mit dem "Ewigen Juden als Steiff-Tier", die Grundschüler mit dem Würfelspiel "Mosche, ärger dich nicht" spielend lernen. Und das alles - um noch einen draufzusetzen - wollen die beiden Werbeleute "als kleinen Beitrag zur Endlösung der noch bestehenden Probleme zwischen Deutschen und Juden" verstanden wissen.

Verhaltener Beifall, als sich die beiden Stunker mit einem flotten "Schalom" von der Bühne verabschieden. Nur ein paar wenige verlorene Pfiffe sind zu hören. Der nächste Sketch wird schon mit harten Beattönen eingeleitet.

Die Kölner Lokalausgabe der Bild-Zeitung deckte den "Skandal um Judenverfolgung" auf. Bekannt für den sensiblen Umgang mit Sprache und Begrifflichkeiten, urteilte das Boulevardblatt: "Dies hat nichts mit Humor zu tun". Und der Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers schrieb den Stunkern ins karnevalistische Tagebuch: "So geht es nicht, nicht bei diesem Thema, nicht in dieser Umgebung".

Die Korrespondentin der Frankfurter Rundschau krittelte: "Vielleicht gut gemeint, aber schwer daneben." Die Jüdische Gemeinde Köln reagierte scharf auf den Karnevalssketch. Miguel Freund, Vorsitzender der Kölner Synagogen-Gemeinde, konstatierte "sprachliche Geschmacklosigkeit". Der Vorsitzende der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Günther Ginzel, empörte sich: "Bei aller Toleranz, das geht zu weit." Zwar sei der "Sketch thematisch gut", aber in seinem sprachlichen Umgang "unerträglich und unakzeptabel".

"Ich war wie vor den Kopf gestoßen", gibt Miguel Freund seine Gefühle wieder: Noch am 8. November vergangenen Jahres hatte er zusammen mit Mitgliedern des Stunksitzungsensembles auf der Tribüne vor der Synagoge bei der Veranstaltung "Domols, hück un morje" ("Damals, heute und morgen") der Reichspogromnacht gedacht. "Von solchen Leuten", sagt Freund, "erwarte ich sprachliche Sensibilität. Über 'Kristallnachtweizen' kann ich nicht mehr lachen." Und wird prinzipiell: "Mit den Gefühlen der Opfer spielt man nicht - da hört auch in Köln der Humor auf."

Was tun in einer Situation, in der antisemitische Begriffe nicht, wie es Miguel Freund formuliert, von den "üblichen Verdächtigen" aus der rechtsradikalen Ecke kommen, sondern von "Leuten, mit denen wir uns durchaus als in einem Boot sitzend begreifen"? Auf Einladung der Lokalpresse setzten sich Miguel Freund und Günther Ginzel mit Winni Rau, dem Sprecher der "Stunksitzung", und Biggi Wanninger, der diesjährigen Sitzungspräsidentin, zu einem klärenden Gespräch über den "zynisch pointierten Karnevalsgag", so Freund, zusammen.

Während Freund und Ginzel über die Gefühlswelt der Shoah-Opfer und sprachliche Sensibilität reden, sprechen Rau und Wanninger von der Intention des Stückes und der Notwendigkeit, in einem karnevalistischen Rahmen auch sprachlich an den Rand des Erträglichen zu gehen. Und wo Ginzel und Freund sich gegen Humor auf Kosten von Opfern aussprechen, argumentieren ihre beiden Gesprächspartner, daß bisher niemand ihnen gegenüber an den Formulierungen Anstoß genommen habe. Winni Rau: "Wir wollen nicht provozieren, uns geht es um Inhalte." Der Verdacht liegt allerdings nahe, daß Alternative unter dem Vorwand von Scherz, Satire und tieferer Bedeutung ihre eigenen Ressentiments ausagieren.

In der Vergangenheit ist die Stunksitzung schon häufiger in die Schlagzeilen geraten. Nach einer Parodie auf die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer unter dem Titel "Miß Mogadischu", sah sich die Truppe dem Vorwurf der "Verhöhnung der Opfer des Terrorismus" ausgesetzt. Ein Bühnenbild mit einem Kreuz, auf dem anstatt des üblichen INRI der kölsche Name für Anton, Tünnes, prangte, zog eine Strafanzeige wegen Gotteslästerung nach sich. Und als Jürgen Becker, Mitbegründer der Alternativkarnevalssitzung, auf der Bühne kniete und nach der Berufung des konservativen Bischofs, Joachim Meisner, zum neuen Kardinal von Köln diesen als ein "Arschloch" bezeichnete, da bebten im katholischen Köln nicht nur die Kirchenbänke.

Die Angriffe und Kritiken nährten allerdings nur den Mythos der Stunksitzung, die seit 1984 gegen die Prunksitzungen des Kölner etablierten Karnevals erfolgreich anstänkert. Die Sitzungen sind seit Jahren - etwa fünfunddreißig bis fünfzig im Jahr - bereits wenige Stunden nach Beginn des Vorverkaufs ausgebucht.

Autonome Hausbesetzer finden sich ebenso ein wie im ökologischen Bauen versierte Hausbesitzer; Yuppies und Müslis, Grüne und Klüngelsozis - "progressive Intellektuelle" eben, wie Miguel Freund sie bezeichnet. Die linksalternative Szene freut sich und feiert, auch wenn sie oft genug selbst Gegenstand derber Parodien ist. Mit allem hatte Biggi Wanninger gerechnet: daß der Oberhirte der katholischen Diözese in Köln, Meisner, die Stunker wegen ihrer von Tradition gewordenen "antiklerikalen Satiren" in diesem Jahr endgültig mit einem kirchlichen Bannstrahl belegen werde; daß grüne Politiker und Parteimitglieder demonstrativ dem karnevalistischen Treiben der "Alternativis" fernbleiben könnten, weil ihnen Form und Inhalt der Parodie "Die grünen Strolche" nicht gefällt; daß sich Feministinnen durch den Kakao gezogen fühlen und Zeter und Mordio schreien.

Aber daß "jüdische MitbürgerInnen", so Wanninger, gegen den Sketch "Hey Jude 2000" protestieren würde, das wäre ihr nun wirklich nicht in den Sinn gekommen. "Da ist niemand", sagt Biggi Wanninger im Gespräch hinter der Bühne, "der bisher bei dieser Nummer abgelacht hätte." Schließlich habe sie mit ihrer Anmoderation den Zynismus der Industrie gegenüber Entschädigungsforderungen ehemaliger Zwangsarbeiter auf den Punkt gebracht, als sie betont habe, daß "VW für die Rolling Stones 35 Millionen auf den Tisch gelegt und den ehemaligen Zwangsarbeiter 20 Millionen gegeben hat". Die alternative Karnevalistin - "Ich bin die neue Mitte" - ist sich vielmehr sicher, daß bei den Zuschauern und Zuschauerinnen ein "Verstehen und Begreifen" ist. Die Mehrheit der Stunk-Besucher hat nichts am "Vokabular aus dem Wortschatz der Herrenmenschen" im Rahmen des Sketches auszusetzen.

"Zulässig", meint eine Enddreißigerin, "denn es wird ja niemand beleidigt." "Das ist 'ne harte Nummer", findet Susanne Herrmann vom Karnevalsverein "Fatal banal". Da diese sich aber nicht gegen die Juden richte, gehöre das sehr wohl auf die Bühne. Ein 43jähriger Verlagskaufmann zeigt sich überrascht, "daß man das ohne jede Peinlichkeit rüberbringen kann". Er regt sich vielmehr darüber auf, daß über die Stunker und ihre Wortwahl, aber nicht über das "skandalöse und zynische der deutschen Industrie". "Das ist schon grotesk", findet er.

Jürgen Becker, der vor vier Jahren bei der Stunksitzung ausgestiegen ist, findet "Hey Jude 2000" zwar "an der Schwelle zum Tabubruch", aber die Nummer stimme in sich. "Satire", findet Becker, "kann sich nicht an dem Empfindlichsten orientieren." In einem Leserbrief an den Kölner Stadt-Anzeiger versuchte Peter Lange aus Overath den Vorsitzenden der Synagogen-Gemeinde über die Feinheiten von Humoreske, Groteske und Persiflage zu belehren: "Die Schwierigkeiten, die Miguel Freund mit der Satire hat, sind sehr und typisch deutsch."

Peter Liebermann, Mitglied der Jüdischen Gemeinde und seit Jahren wohlwollender Besucher der Stunksitzung, wäre es lieber gewesen, wenn die Akteure den Sketch vorübergehend aus ihrem Programm genommen hätten, "um in Ruhe über die Kritik aus der Jüdischen Gemeinde nachzudenken und Änderungen zu beraten". Trotz der Kritik präsentierte die Stunktruppe "Hey Jude" aber zunächst weiter - mit nur geringfügigen Änderungen. "Bei uns dauert alles ein wenig länger, denn wir sind eine basisdemokratische Gruppe", begründet Biggi Wanninger, warum nicht sofort grundlegende Textänderungen vorgenommen wurden. Und Stunker Bruno Schmitz wirbt um Verständnis für den langwierigen Prozeß unter den gut zwanzig Frauen und Männern, die die Stammcrew bilden: "Bei uns gibt es keinen Chef und keine Chefin. Wir diskutieren so lange, bis ein Konsens unter uns erreicht ist."

Mittlerweile präsentieren Doro Engelhaaf und Christian Rzepka, der jahrelang mit einem Jugendtheater über Neonazis durch die Lande tingelte, eine "entschärfte" Version von "Hey Jude 2000". Sämtliche umstrittene Formulierungen wurden gestrichen. Für Winni Rau kommt zwar "der Zynismus der Industrie jetzt nicht mehr so gut rüber, das extreme Schlucken beim Publikum bleibt aus". Aber auch er findet: "Wir können damit leben."

Die Kölner Synagogen-Gemeinde ist mit den vorgenommen Änderungen einverstanden. Miguel Freund: "Ich bin froh, daß die Leute den Sketch so umgeschrieben haben, daß die Gefühle der Opfer berücksicht wird." Und Winni Rau bezeichnet im nachhinein "den Diskurs zwischen Jüdischer Gemeinde und uns als schmerzhaft, aber sinnvoll. Wir haben zur Kenntnis genommen, daß es Dinge gibt, die bei den Betroffenen eine stärkere Reaktion hervorruft als beim Publikum."