Génération revoltée

Shoah und Revolte: Yair Auron befragte jüdische Linke in Frankreich über ihre Rolle im Mai 1968

"Ich bin Kommunist, weil ich Jude bin" - dieser während des Zweiten Weltkriegs von Leop0ld Trepper, dem Leiter des sowjetischen Spionagerings Rote Kapelle, geäußerte Satz besaß für viele in die 68er-Ereignisse in Frankreich involvierten Maoisten, Trotzkisten und Anarchisten Gültigkeit.

Der Wissenschaftler Yair Auron hat in einer fünfzehnjährigen Forschungsarbeit zur Identität linksradikaler französischer Juden zahlreiche Interviews geführt und die Biographien jüdischer Linker recherchiert. Fast alle Befragten sehen einen Zusammenhang zwischen ihrer jüdischen Herkunft und ihrem politischen Engagement durch direkte oder über ihre Familien vermittelten Erfahrungen der Judenvernichtung.

Aurons Studie "Une Génération révolutionnaire marquée", die 1998 in hebräischer Sprache und im selben Jahr auf Französisch erschien, ist nicht nur ein Text über die französisch-jüdischen Linksradikalen, sondern auch eine Geschichte der französischen extremen Linken. Die "radikalen Juden" (Auron) verschweigen ihre jüdische Herkunft nicht. Sie begründen die radikale Ablehnung und den politischen Kampf der extremen Linken gegen den Antisemitismus in den sechziger und siebziger Jahren mit dem Leid und der Erfahrung der französischen Judenheit.

Das antisemitische Stereotyp vom wurzellosen Juden, der gleichzeitig das Finanzkapital und die Presse beherrscht und nebenbei noch Zeit findet, Revolutionen vorzubereiten, wird von Auron ironisch kommentiert und, was den letzten Punkt angeht, offensiv gewendet. Aurons zentrale These ist, daß der Nationalsozialismus, die Shoah und deren Folgen in unterschiedlichen Ausprägungen das politische Engagement und die ideologischen Positionen der jüdischen Aktivisten des Mai bestimmten. Mit dieser Fragestellung geht Auron dem Selbstbild der linksradikalen Juden damals und heute nach. Darin liegt die Stärke dieser Arbeit.

Auron befragt zunächst diejenigen, die Ende der dreißiger Jahre und während des Krieges geboren wurden. Die meisten von ihnen waren Kinder jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten, die das Vichy-Regime ausnahmslos den Deutschen ausgeliefert hatte. Unter denjenigen, die als Kinder die Shoah erleben mußten und sich als Jugendliche bzw. junge Erwachsene in der revolutionären Linken engagiert hatten, tauchen so bekannte Persönlichkeiten auf wie Alain Geismar, André Glucksmann, Bernard Kouchner und Emmanuel Karlibach.

Eine wichtige Phase erlebt die französische Linke in der Zeit ihres Kampfes gegen den Algerien-Krieg. Viele junge Leute, die sich gegen den Krieg engagiert hatten, wurden die Organisatoren von 1968. Ende der fünfziger Jahre konnte man innerhalb der Minderheit, die gegen den Algerienkrieg kämpfte, eine starke jüdische Gruppe ausmachen.

Vielleicht war dies einer der Gründe, warum die französische Solidaritätsbewegung - anders als die deutsche - weniger an den unterdrückten Nationen als an einer universellen Emanzipation interessiert war. Jeanette Pienkny, später Jeanette Habel, Jahrgang 1938, lange Zeit eine Protagonistin der JCR (Jeunesse communiste révolutionnaire) und später der LCR (Ligue communiste révolutionnaire), sagt: "Wir sahen das nicht als einen Kampf anderer Völker. Es ging immer ums gleiche. Die Kolonialisierung, die extreme Rechte, der Faschismus, nichts hatte sich geändert."

Die Kinder des Krieges hatten ihr politisches Bewußtsein während des Algerien-Krieges entwickelt. "Antisemiten, erzittert!" war eine der von der LCR ausgegebenen Parolen des antifaschistischen Kampfes Anfang der siebziger Jahre.

Die zweite von Auron untersuchte Generation, die Kinder der Überlebenden, erfuhren von den Schrecken der Shoah durch ihre Eltern; zu dieser Gruppe gehört auch Daniel Cohn-Bendit. Sie verbindet keine persönliche Erfahrung mit der Shoah, obgleich ihre Familien davon geprägt sind. Auron konstatiert, daß die Revolte dieser Jugendlichen 1968 auch eine Revolte gegen die passive oder die Nazis aktiv unterstützende Haltung vieler Franzosen während des Krieges war.

Durch die Einwanderung vieler nordafrikanischer Juden nach der Entkolonialisierung hatte Frankreich den größten jüdischen Bevölkerungsteil Europas. Die schnelle Integration dieser Einwanderer in die französische Gesellschaft gilt als Beispiel einer perfekten Assimilation. Die Mehrheit der jüdischen Einwanderer engagierte sich in den linken Parteien, von denen sich ihre Kinder Ende der sechziger Jahre wieder lösten. Die KPF hat sehr viel zur Integration dieser Einwanderer beigetragen. Ein Grund, warum viele jüdische Einwanderer in der KPF aktiv waren, war, daß sie sich der UdSSR wegen ihrer Rolle im Kampf gegen Nazideutschland und der KPF wegen ihrer Funktion in der Résistance verbunden fühlten.

Linksradikale Organisationen wollten im Frankreich der Nachkriegszeit - im Gegensatz zu Italien und Deutschland - nie etwas mit dem bewaffneten Kampf zu tun haben. Henri Weber, früher im Leitungsgremium der LCR, heute Senator für die Sozialistische Partei, hat dafür folgende Erklärung: "Unsere Väter waren in der Mehrheit entweder in der Résistance oder deportiert. Unsere Verweigerung des Terrorismus hängt genau damit zusammen. Wir müssen uns unserer Eltern nicht schämen. Die deutschen, italienischen oder japanischen Genossen aber schon."

Auron stimmt dieser These weitgehend zu und ergänzt noch, daß Frankreich im Gegensatz zu Deutschland, Italien, Spanien oder Japan nie von einem eigenständigen faschistischen Regime regiert wurde, das seinen Gegnern keine andere Wahl als den Gegenterror ließ. Einen weiteren Grund sieht Auron in der starken jüdischen Präsenz innerhalb der Leitung der diversen linksradikalen Gruppen. Es waren diese Organisationen, die in den sechziger und siebziger Jahren von der französischen Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit dem Vichy-Regime gefordert hatten.

Linke Gruppen identifizierten sich in den siebziger Jahren mit einer der berühmtesten Résistancegruppen, L'Affiche rouge (siehe auch bibliographische Anmerkung). Dabei spielte die internationale, mehrheitlich jüdische Zusammensetzung dieser Gruppe eine wichtige Rolle. Franck Cassettis Dokumentarfilm über L'Affiche rouge aus dem Jahr 1970 weist nach, daß die KPF die Mitglieder der Gruppe an die Faschisten verriet. Die extreme Linke identifizierte sich mit diesen Widerständlern, weil auch sie sich von der KPF betrogen fühlte. Sie vertrat immer deutlicher ihre internationalistischen und universalistischen Werte und ihre solidarische Haltung allen Fremden gegenüber.

Viele linksradikale französische Juden sahen sich als die legitimen Nachfahren der Gruppe L'Affiche rouge. Nicht zuletzt diese Identifikation mit einer unter faschistischer Besatzung kämpfenden Untergrundgruppe führte zu der Erkenntnis, daß zwischen der Epoche von Marcel Reyman und der aktuellen französischen Gesellschaft ein Unterschied besteht.

In den fünfziger Jahren war Frankreich ein Alliierter Israels. Während der sechziger Jahre kam es zu einer Distanzierung zwischen beiden Ländern, Frankreich betrieb mehr und mehr eine pro-arabische Politik. Für die französischen Linksradikalen stellte Israel die logische und notwendige Konsequenz aus dem deutschen Nationalsozialismus und der Shoah dar. Im Gegensatz zu Deutschland vertrat die französische Linke gegenüber Israel eine klare Position: Den Attentaten in der Rue Copernic 1980 und in dem jüdischen Restaurant Goldenberg, Rue des Rosiers, 1982, folgten spontane, von der extremen Linken ausgerufene Demonstrationen. Es waren die größten Demonstrationen seit dem Mai 1968.

Als jüdischer Linker in einem Europa nach der Shoah zu leben, während Israel um sein Überleben kämpft, mußte emotionale und intellektuelle Konflikte provozieren. Viele jüdische Linke entdeckten, als sie sich für das Überleben Israels einsetzten, die Existenz der Palästinenser, wie z.B. Marek Halter. Trotz einer harten Kritik gegenüber dem Staat Israel riefen die Organisationen der extremen Linken nie zum bewaffneten Kampf gegen Israel auf oder forderten, wie ein Großteil der deutschen Solidaritätsbewegung, die Vernichtung des Staates Israel.

Gleichwohl unterstützte die extreme Linke in den sechziger und siebziger Jahren die Palästinenser bedingungsloser als die kommunistische Partei, die zu diesem Zeitpunkt Israel feindselig gegenüberstand. Die meisten linksradikalen Organisationen versuchten, über die antipalästinensische Politik Israels die Vorgeschichte des jungen Staates nicht zu vergessen. Sie wahrten eine Balance, die weder in Antisemitismus noch in eine Bejahung des palästinensischen Nationalismus abglitt. Das Attentat in der Rue Copernic von 1980 wurde so kommentiert: "Die bedingungslose Solidarität mit den Opfern der Rue Copernic läßt uns keinen Moment unsere bedingungslose Solidarität mit den Opfern von Naplus und Ramallah vergessen." (D. Bensaid und B. Cohen in der Wochenzeitung Rouge nach dem Attentat)

Spannend ist auch Aurons Schlußkapitel "Ideologische Analyse und politische Schlußfolgerungen". Auron, der sich als Anhänger der "Dialektik der Aufklärung" erweist, sieht im Nationalsozialismus eine Konsequenz der Französischen Revolution. Er schätzt den Aufstand von 1968 als eine Revolte gegen den Staat und seine Ideologien ein. Was die jüdischen und die zionistischen Organisationen sich nie getraut hätten, haben die jüdischen Linksradikalen laut und deutlich im Rahmen ihres antifaschistischen Kampfes formuliert: die Verantwortung des französischen Staates für die Auslieferung der französischen Juden an das nationalsozialistische Deutschland.

Yair Auron: Une Génération révolutionnaire marquée par la Shoah. Albin Michel, Paris 1998, 334 S., FF 135

Stéphane Courtois / Denis Peschanski / Adam Rayski: L' Affiche rouge. Immigranten und Juden in der französischen Résistance. Schwarze Risse Verlag, Berlin 1994, 388 S., DM 36