Dreimal täglich gegen Juden

Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt, doch viele Verbrechen werden nicht einmal als solche registriert

Gut dreißig mal dreißig Zentimeter ist das Hakenkreuz groß. Mit schwarzem Lack wurde es vor vierzehn Tagen nachts auf die Außenwand des Hauses gesprüht, in dem sich die Redaktion der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung in Bonn befindet. In derselben Nacht wurden noch an zwei anderen Stellen in Bonn-Bad Godesberg Hakenkreuze geschmiert - vermutlich von den gleichen Tätern. Die Polizei ermittelt, wie sie es in solchen Fällen meistens macht - gegen Unbekannt.

"Sobald etwas aussieht wie ein Hakenkreuz oder eine SS-Rune, wird das von uns statistisch erfaßt", erklärt ein Bonner Staatsschutzbeamter. Und BKA-Sprecher Jürgen Stoltenow versichert: "Bei dem Thema sind wir sensibel."

Und wie: In der jährlich veröffentlichten Kriminalitätsstatistik werden die antisemitischen Straftaten gesondert aufgeführt - die Mehrzahl unter: "Die Täter konnten nicht ermittelt werden." Zudem stehen der gesundbetenden Verhamlosung der Kriminalbeamten die von Politikern immer immer wieder geäußerten Thesen von jugendlichem Übermut und dem stets präsenten Einzeltäter entgegen.

Auch in diesem Jahr werden vermutlich unzählige dieser Symbole irgendwo zwischen Flensburg und Lindau, zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt auftauchen - ohne je Aufnahme in die statistischen Zahlenwerken bundesdeutscher Kriminalistik zu finden. Was nicht schwarz auf weiß bei den Behörden kursiert, das existiert auch nicht.

Die Zahlen steigen trotzdem: Wäh-rend 1997 insgesamt 976 Delikte registriert wurden, vermeldete vor knapp einem Monat die Pressestelle des Bundeskriminalamtes für 1998 einen Zuwachs von etwa 1,5 Prozent auf insgesamt 991, drei Taten pro Tag.Vorläufiger Höhepunkt antisemitischer Gewalttaten: Im Dezember des Vorjahres sprengten Unbekannte - bereits zum weiten Mal - die Grabplatte des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski.

Aufgeklärt werden konnten gerade mal 258 Fälle (26,03 Prozent). Während von den vierzehn Körperverletzungen mit antisemitischer Motivation in zehn Fällen die Täter dingfest gemacht wurden, sucht die Polizei nach wie vor die Urheber der beiden Sprengstoffanschläge auf das Grab Heinz Galinskis. Auch die anderen Daten sind ernüchternd: Störung der Totenruhe, Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten - 55 Fälle, aufgeklärt: sechs (10,9 Prozent); Sachbeschädigungen inklusive Schmierereien - 54, aufgeklärt: drei (5,6 Prozent); Verbreitung von Propagandamitteln und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen - 249 Fälle, aufgeklärt: 49 (21,4 Prozent); Nötigung und Bedrohung - 33 Fälle, aufgeklärt: vier (12,1 Prozent); andere Straftaten, wie zum Beispiel Hausfriedensbruch, "Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten" und Volksverhetzung: 604 Fälle, aufgeklärt: 196 (30,8 Prozent).

"Über laufende Verfahren erteilen wir keine Auskünfte", begründet ein Beamter des Bonner Staatsschutzes seine Weigerung, Ermittlungsergebnisse über mögliche Urheber von Hakenkreuzschmierereien mitzuteilen. Für die nächtliche Sprühaktion bei der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung komme möglicherweise eine "geistig verwirrte Frau" in Frage, aber es "fehlt uns an konkreten Beweisen". Eine Kranke also, die rein zufällig ausgerechnet die Wand eines Gebäudes mit einem Hakenkreuz besprüht, in dem sich ebenso zufällig eine jüdische Zeitung befindet? Auch für Bundespräsident Roman Herzog war der Anschlag auf das Galinski-Grab in Berlin "Ausfluß einer verrückten Gesinnung und das Werk von wirren Einzelgängern". Die Bundesrepublik Deutschland - ein einziges Tollhaus von durchgeknallten Ausländerfeinden und Antisemiten? Wohl kaum.

Wer versucht, präzise und detaillierte Informationen über das Ausmaß antisemitischer Straftaten zu erhalten, der trifft auf Abwehrhaltung. Wer wissen will, wie hoch die Dunkelziffer ist, welche Verfahren einfach aus dem Erfassungsraster fallen, erntet Achselzucken. "Eine Auflistung konkreter antisemitischer Vorfälle liegt uns nicht vor", bescheidet die Pressestelle des Bundesinnenministeriums, "wenden Sie sich doch an das Bundeskriminalamt." Auch die Beamten der dortigen Pressestelle müssen "leider passen", weil sie keine Auskunft geben dürfen - "das liegt in der Zuständigkeit des Bundesministers des Innern".

"Das BKA ist mehr als zurückhaltend", urteilt der Rechtsextremismusexperte Anton Maegerle. "Wir wollen keine Nachahmungstäter animieren", hört er immer wieder als Begründung aus Sicherheitskreisen. "Da wird total gemauert." Trotz wiederholter Anfragen bei Justiz- und Polizeibehörden sei eine detaillierte Aufschlüsselung mit der genauen Beschreibung, dem Zeitpunkt und dem Ort der antisemitischen Straftat nicht zu erhalten.

"Zu erheblicher Auswertungsaufwand", versucht BKA-Pressesprecher Stoltenow die Zurückhaltung seiner Behörde zu entschuldigen. Zwar erhält das Bundesamt von den Landeskriminalämtern monatlich statistische Meldungen über antisemitische Straftaten. Über Details zu einzelnen Delikten will Stoltenow aber nur "off the record", also vertraulich, sprechen. "Wenn man alles schreibt, dann kommen Leute nur auf dumme Ideen", findet er.

Ähnliche Argumente hört die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke schon seit Jahren. Als sie von der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage 1992 Auskunft über die Anzahl registrierter antisemitischer und rassistischer Straftaten haben wollte, teilte der damalige Staatssekretär im Innenministerium Eduard Lintner (CSU) der Bundestagsabgeordneten lapidar mit: "Zu hoher bürokratischer Aufwand".

Unlautere Motivationen für seine zurückhaltende Informationspolitik möchte die PDSlerin Jelpke dem früheren christdemokratischen Staatssekretär nicht unterstellen, aber es sei schon verwunderlich, daß Lintner ausgerechnet der Jungen Freiheit ein Interview gewähre - obwohl der Verfassungsschutz die Zeitung unter der Rubrik "Rechtsextremismus" führt.

Dank der Beharrlichkeit von Ulla Jelpke veröffentlicht das Bundesinnenministerium mittlerweile immerhin eine Statistik. Die PDS-Bundestagsabgeordnete warnt allerdings davor, voreilige Schlüsse aus den vorgelegten Zahlen zu ziehen. Viele Verbrechen würden nicht einmal als solche registriert. "Das kommt vor", räumt Stoltenow ein, "denn die zuständige Behörde nimmt die statistische Klassifizierung vor."

Helmut Schröder ist da weniger zurückhaltend. "Alles Quatsch", urteilt der ehemalige Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Jelpke: "Der damaligen Bundesregierung ging es darum, das Aumaß des rechtsextremistischen Terrors und den Umfang ausländerfeindlicher und antisemitischer Straftaten nicht öffentlich zu machen." Als Beispiel führt er den Brandanschlag auf ein Flücht-lingswohnheim im hessischen Lampertsheim an, bei dem im Januar 1992 drei Menschen starben. In der Statistik rassistischer Gewalttaten tauchen diese Toten nicht auf. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt spricht dagegen von "fahrlässiger Brandstiftung aus Doofheit". Von Ausländerfeindlichkeit kein Wort. Und das, obwohl in derselben Nacht auch rassistische Parolen gesprüht wurden.