Bouteflika Bonaparte

Nach zehn Bürgerkriegsjahren und mehr als 100 000 Toten will Algeriens Präsident Bouteflika die algerische Gesellschaft einen. In einem Referendum hat er sie schon zusammengebracht.

98,63 Prozent Zustimmung: Welche Regierung träumte nicht von solchen Ergebnissen? Abdelaziz Bouteflika, Algeriens im April dieses Jahres neugewählter Präsident, hat sich den Traum wahrgemacht - mit einem Plebiszit, das er sich auf den Leib hat schneidern lassen. Und kaum jemand zweifelt in Algeriens Hauptstadt Algier an der hohen Zustimmungsrate: Mit Nein zu stimmen, wäre im aktuellen Klima einem Bekenntnis zu Krieg und Gewalt gleichgekommen. Seit Bouteflika gewählt wurde, gibt es in Algerien erstmals wieder Diskussionen, die von offizieller Seite vorangetrieben werden - nachdem sich Machthaber und Regierte jahrelang angeschwiegen hatten.

Die Kommunikationsoffensive

Der Präsident übertreibt nicht, wenn er von einer "Kommunikationsoffensive" spricht: Während der letzten drei Monate hat Bouteflika nationalen und internationalen Medien mehr Interviews gegeben als seine Vorgänger in den letzten 20 Jahren zusammengenommen. Auf dem einzigen Kanal des algerischen Fernsehens kommt man jeden Tag vom Morgen bis zum Abend immer wieder in den Genuß, dem neuen starken Mann lauschen zu können.

In Algier erzählt man sich bereits den Witz von einem Mann, der im Laufe des Abends vor dem Fernseher eingeschlafen ist, nachdem er stundenlang Bouteflika zugehört hat. Mitten in der Nacht wacht er auf und will seinen Apparat ausschalten. Im Fernseher sieht er Bouteflika, der, den Kopf auf dem Schreibtisch, ebenfalls eingeschlafen ist. Der Präsident erwacht und beruhigt den Mann, er könne getrost weiterschlafen. Selbstverständlich werde er, Bouteflika, am nächsten Morgen wie gewohnt für ihn da sein.

Tatsächlich steigerte sich in den letzten Tagen vor der Wahl die Medienpräsenz des Präsidenten, der nicht müde wurde, sein Anliegen zu vertreten, bis zur Allgegenwart. Auch wenn manche örtlichen Beobachter bezweifelten, daß, wie es in offiziellen Angaben hieß, über 85 Prozent der 17,5 Millionen Wahlberechtigten an dem Referendum teilgenommen haben, halten Kenner der politischen Szene die sehr hohe Wahlbeteiligung dagegen für "gut möglich".

Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung, wie immer, in Tizi-Ouzou, der Regionalhauptstadt der Kabylei, einer außergewöhnlich politisierten und von Autonomiebestrebungen der berbersprachigen Bevölkerung geprägten Region. Doch wenn die offiziellen Angaben von 38 Prozent Wahlbeteiligung zutreffen, dann brach die Teilnahme an dem Referendum auch hier Rekorde: Bei der letzten Präsidentschaftswahl hatten weniger als fünf Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gefunden.

Die Algerier drängten bestimmt nicht deswegen zur Abstimmung, weil es diesmal endlich etwas zu entscheiden gegeben hätte: Das Gesetz zur "Concorde civile" - zur "bürgerlichen Eintracht" -, über das am vergangenen Donnerstag abgestimmt wurde, wird bereits seit zwei Monaten angewendet. Sein Kernstück ist eine Amnestie für die Mitglieder radikalislamischer Terrorgruppen: Wer die Waffen bis zum 13. Januar 2000 niederlegt, dem wird unter bestimmten - sehr weit gefaßten - Bedingungen die Strafe erlassen.

Die Versöhnungsoffensive

Vor der Abstimmung wurde eigens die Place du 1er Mai in Algiers Zentrum in Place de la Concorde Civile umgetauft. Hier befindet sich auch die Salle El-Harscha, wo Bouteflika am 15. September seinen letzten großen Auftritt vor dem Referendum hatte. Vor den Toren drängelten sich Hunderte von neugierigen Jugendlichen, die keinen Einlaß mehr gefunden hatten. Drinnen im Saal zahlreiche islamische Würdenträger im gesetzten Alter, in wallende Gewänder gehüllt, weiße Turbane auf dem Kopf - noch mehr von ihnen wären gekommen, doch nicht alle wurden eingelassen.

Sie mischten sich mit geladenen Gästen aus Politik, offiziellen Gewerkschaften und Vertretern der "Opfer der Jahre des Terrors". Dazu zählen die offiziellen Stellen neben den Hinterbliebenen der Massakeropfer inzwischen auch die Familien der islamistischen Terroristen, deren Kinder "verschwunden" sind - sei es, daß sie getötet wurden, sei es, daß sie noch in den Maquis - den Rückzugsgebieten islamistischer Guerilla-Gruppen - agieren und kein Lebenszeichen von sich geben. In der Salle El-Harscha kamen beide Gruppen zu Wort.

Als die Repräsentantin der islamistischen Familien nicht aufhörte, über ihre "40 000 Dossiers von Verschwundenen" zu lamentieren, wies Bouteflika sie zurecht: Ihre Klientel habe nicht das Recht, die nationale Versöhnung zu blockieren. Eine Vertreterin von Angehörigen der Opfer islamistischer Terrorgruppen wurde dagegen von Teilen des Publikums ausgebuht. Der Grund ist der Positionswechsel dieser Gruppe während der letzten Wochen: Nachdem sie zuletzt jegliche Aussöhnung mit Fundamentalistengruppen scharf abgelehnt hatte, die aus ihrer Sicht nicht davor zurückschrecken, auch Frauen und Kindern die Kehlen durchzuschneiden, unterstützt sie nun das unter Bouteflika in die Wege geleitete Gesetz.

Ein Teil der Opferfamilien sucht in der Tat den Kompromiß mit der Regierung. Sie hoffen darauf, sich als effektive Lobby konstituieren zu können und für die eigene Klientel einen Status ähnlich dem der offiziell so genannten Märtyrerfamilien zu erlangen. So heißen seit dem Ende des Unabhängigkeitskrieges 1962 die Angehörigen der Gefallenen, die bis 1989 zur sozialen Basis der antikolonial-realsozialistischen Einheitspartei FLN zählten. Lange Zeit genossen sie - meist geringe - materielle, vor allem aber symbolische Privilegien.

Ein anderer Teil der Vereinigungen der Familien von Terrorismusopfern lehnt Bouteflikas generöses Angebot an die Reste der fundamentalistischen Guerilla nach wie vor ab. Diese Gruppen stehen weiterhin im Widerspruch zur offiziellen Versöhnungspolitik und deren Versprechen, mit dem Amnestiegesetz die extreme Gewaltsituation des zurückliegenden Jahrzehnts zu beenden. Ihre politische Vertretung bildet das Comité national contre l'oubli et la trahison (CNOT), das Nationalkomitee gegen das Vergessen und den Verrat. Dieses Komitee findet zwar ein großes Echo in der stark anti-islamisch geprägten privaten Presse in französischer Sprache, in Zeitungen wie Le Matin, Liberté und El Watan. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Organisation nur aus wenigen Hundert Aktiven besteht.

Auch der Mouvement démocratique et social (MDS; Soziale und Demokratische Bewegung) bleibt bei seiner unversöhnlichen Haltung gegenüber den islamistischen Organisationen. Die kleine Gruppierung, die viele ehemalige Mitglieder der früheren Kommunistischen Partei Algeriens aufgenommen hat, hat seit Anfang der neunziger Jahre ihre Ausrichtung an Sozialismus und Klassenkampf nach und nach durch einen Diskurs zugunsten der "Modernität" und gegen den "Archaismus" ersetzt. Der MDS begreift sich heute als Speerspitze aller algerischen anti-islamistischen Kräfte.

Der Strategiewechsel

Eine scharfe Kehrtwende hat dagegen die größte der bisher strikt anti-islamischen Parteien vollzogen, der RCD (Rassemblement pour la culture et la démocratie; Sammlung für Kultur und Demokratie). Sie zählt zwar eine Reihe ehemaliger Marxisten zu ihren prominenten Mitgliedern, tritt jedoch heute für eine "Modernisierung" Algeriens im Sinne der Einführung einer funktionierenden Marktwirtschaft und einer Annäherung an die EU ein.

Der RCD, der - neben dem MDS - starken Einfluß auf die frankophone Presse ausübt, unterstützt nun die Politik Bouteflikas, obwohl dessen Äußerungen in der jüngeren Vergangenheit eher den Thesen der Reconciliateurs ("Versöhner") ähnelten als jenen der anderen großen Fraktion im Staatsapparat, der ƒradicateurs (in etwa: "Ausrotter"), denen der RCD bisher nahegestanden hatte. Der Kurswechsel der Partei nährt in der Presse kursierende Gerüchte, nach denen der RCD in eine nach dem Referendum neuzubildende Regierung eintreten wird. Vertreter des RCD begründen ihren Sinneswandel mit den veränderten Verhältnissen: Als das staatliche Machtzentrum im vergangenen halben Jahr auf die radikalen Islamisten zuging, sei dies erstmals aus einer Position der Stärke heraus geschehen. Diese Grundlage hätte eine Politik der Versöhnung in den vergangenen Jahren nicht gehabt.

Seit etwa zwei Jahren ist der bewaffnete Islamismus in Algerien militärisch geschlagen. Auch die Sympathien in der Bevölkerung sind deutlich zurückgegangen, seit verschiedene islamistische Gruppen eine Politik kollektiver Massaker begonnen haben. Die fehlende Unterstützung trug zum militärischen Niedergang der Islamisten ebenso bei wie der weitgehende Verlust von Nachschub-Basen und Rückzugsgebieten in Westeuropa, seit Polizei und Justiz vor allem in Frankreich hart gegen algerische Fundamentalisten vorgehen.

Die politischen Köpfe der Islamisten haben dies erkannt. Das dürfte der Grund sein, warum sie sich nun auf reelle Verhandlungen eingelassen haben. Gleichzeitig wurden die legalen "gemäßigten" Islamisten stärker - mittlerweile stellen sie zwei der derzeit vier Regierungsparteien. Noch ein Grund für den Kurswechsel des RCD: Wenn man sie läßt, will die laizistisch-republikanische Partei innerhalb der Regierung ein Gegengewicht zu den Religiösen bilden.

Gegen das Amnestie-Gesetz stellt sich jener Teil der politischen Klasse, der schon auf dem Höhepunkt der Krise 1994/1995 für eine "Aussöhnung" mit der verbotenen Partei des radikalen Islamismus, dem FIS, und für dessen politische Rehabilitierung eintrat. Dies gilt insbesondere für die kabylische Regionalpartei FFS (Front des forces socialistes; Front sozialistischer Kräfte). Sie kritisiert, statt mit den bewaffneten Gruppen - auf der Basis von deren militärischer Niederlage - zu reden, sollten die staatlichen Machthaber lieber den politisch organisierten Islamismus generell als Gesprächspartner anerkennen und mit diesem einen Kompromiß suchen.

Das entspricht den Festlegungen, die 1994/ 1995 im Vertrag von Rom getroffen wurden. Seinerzeit hatten sich unter anderen politische Vertreter der FFS, der kleinen trotzkistischen Arbeitspartei und der "reformislamischen" legalen Ennahda im Kloster Sant'Egidio bei Rom mit hochrangigen Mitgliedern des verbotenen FIS getroffen. Nach längeren Verhandlungen kam es schließlich im Januar 1995 zu einer gemeinsamen Vereinbarung, dem Vertrag von Rom, in dem zahlreiche Vorschläge für einen dauerhaften Frieden in Algerien präsentiert wurden. Beim derzeitigen Kräfteverhältnis gibt es aber kaum Chancen für eine solche Lösung.

Der gespaltene FIS

Beim FIS selbst ist man über die Haltung gegenüber Bouteflika gespalten. In Bonn warb der dort residierende ehemalige Chef der FIS-Auslandsvertretung, Rabah Kebir, für die Zustimmung zum Amnestie-Gesetz. "Der FIS", erklärte Kebir, "ist jedenfalls unter seiner derzeitigen Bezeichnung ein abgeschlossenes Kapitel." Damit ließ er seine Bereitschaft erkennen, sich auf ein eventuelles Angebot Bouteflikas zur legalen politischen Betätigung in einem begrenzten Rahmen einzulassen. In Algerien haben dagegen eine Reihe von Mitgliedern der historischen FIS-Führung Bouteflikas Aussöhnungspolitik als unvollkommen kritisiert, da sie die bisherigen FIS-Führer ausschließe.

Bouteflikas Äußerungen zum Islamismus sind widersprüchlich und schillernd. Für den Islamismus sei in Algerien kein Platz, erklärte er vor zweieinhalb Wochen in Annaba. Eine islamistische Politik sei widersinnig, präzisierte er nur wenig später in Oran, da Algerien ohnehin eine muslimische Identität habe; folglich sei das Land "weder für eine laizistische Politik noch für eine islamistische Politik" zu haben. Am Mittwoch vergangener Woche erklärte er gegenüber Vertretern des "gemäßigten" Islamismus, er habe immer "eine Sympathie für die islamistische Politik gehabt, aber es ist eine rote Linie überschritten worden, so daß der Staat handeln mußte". Bouteflika träumt davon, als starker Mann eines bonapartistischen Regimes - am Ausgang von Zeiten politischer Wirren - "über den Parteien" zu stehen und alle Fraktionen unter seine Fittiche zu nehmen.