Meine Papiere, s’il vous plaît

Was haben die Aktionen der Sans-Papiers bewirkt? Madjiguène Cissé, die Sprecherin der französischen Bewegung der Illegalen, zieht eine vorläufige Bilanz.

Michel Foucault behauptete, dass eine Theorie ihren subversiven und kritischen Gehalt verliert, wenn sie an den Universitäten gelehrt werde. Gilt dies auch für eine Bewegung, die ihre eigene Geschichte schreibt? Bedeutet dies ihr Ende oder ihre Institutionalisierung? Nach der Lektüre von "Papiere für alle" lassen sich diese Fragen mit einem klaren Nein beantworten. Madjiguène Cissés Rückblick auf die sozialen Kämpfe in den Jahre 1996 bis 1999 beteiligt die Leser an einer Auseinandersetzung, die in der Bundesrepublik ihresgleichen sucht.

Die Sans-Papiers, deren Sprecherin Cissé ist, sind über Frankreichs Grenzen hinaus bekannt geworden. Auch wenn ihre zentrale Forderung

bis heute nicht erfüllt wurde, hat der Kampf der Sans-Papiers dem herrschenden europäischen Konsens, die Einwanderung zu kontrollieren, etwas entgegengesetzt. Die Legalisierung aller Illegalen wurde nicht erreicht, aber es ist den Sans-Papiers gelungen, dass ein Teil der französischen Gesellschaft sie unterstützt. Diese Unterstützung wurde auch deshalb möglich, weil die Sans-Papiers sich nie als eine Ein-Punkt-Bewegung verstanden haben. Im Gegenteil, sie bestehen darauf, Teil der sozialpolitischen Geschichte Frankreichs, Teil der Arbeiterbewegung, zu sein und verlangen genau deshalb ihre Papiere.

Der erste offizielle Vertreter der französischen Gesellschaft, der die Sans-Papiers in der besetzten Kirche Saint-Bernard im August 1996 besuchte, war der damalige Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaftszentrale CGT, Louis Viannet. Die Solidarität mit MigrantInnen war in der Vergangenheit nicht unbedingt eine Stärke der CGT gewesen. Bei den großen Streiks in der Automobilbranche Anfang der achtziger Jahre verweigerte sie den streikenden Arbeitern, die in der Mehrzahl aus Nordafrika stammten, schlicht die Unterstützung - mit dem Argument, sie sollten doch zunächst im eigenen Land für soziale Gerechtigkeit sorgen.

Aber die politische Situation Anfang des Jahres 1996 war günstig für einen Stimmungsumschwung der Gewerkschaften. Im November und Dezember 1995 streikten und demonstrierten Hunderttausende Lohnabhängiger - ein geeigneter Zeitpunkt, um mit den Gewerkschaften anzubändeln bzw. deren Solidarität einzufordern. Das Gewerkschaftshaus in Paris, die Bourse du travail, war ein Veranstaltungsort der Sans-Papiers. Am 12. Juli 1996 wurde es symbolisch besetzt. Nach der CGT regten sich auch die sozialdemokratische CFDT, die Gewerkschaften des Erziehungswesens und die linksradikale SUD. Und die Gewerkschaften der Air France weigerten sich, Maschinen für Abschiebungen, die seit 1986 meistens per Charter durchgeführt werden, zur Verfügung zu stellen.

Doch die Sans-Papiers begnügen sich weder mit dem traditionellen Organisations-Schema der Arbeiterbewegung, noch entsprechen sie dem, was in den siebziger Jahren neue soziale Bewegung genannt wurde; sie gehören zu einer neuen Organisationsform sozial und gesellschaftlich Ausgegrenzter, wie sie in den neunziger Jahren enstanden ist. Entscheidend ist, dass die Sans-Papiers die Repräsentation durch andere verweigern und darauf bestehen, für sich selbst zu sprechen. Denselben Ansatz verfolgen die Bewegungen der Arbeitslosen AC! ("assez", "genug") und der Obdachlosen sdf ("sans domicile fixe", "ohne festen Wohnsitz"), mit denen die Sans-Papiers gemeinsame Aktionen durchgeführt haben.

Linke wie rechte Regierungen fordern seit Jahren die Eindämmung der "illegalen Einwanderung". Linke wie rechte Regierungen "schließen, kontrollieren, beherrschen, unterdrücken, bekämpfen". Cissé analysiert die Entwicklung der französischen Einwanderungsgesetzgebung seit 1945. Ein Einschnitt ist das 1974, nach der Ölkrise von 1973, offiziell verkündete Ende der Arbeitsimmigration. Durch wechselnde, immer weiter verschärfte Gesetze wurden rechtlose Zonen geschaffen, in denen sich die Sans-Papiers heute bewegen. Seit 1974, so Cissé, ist das Leben für Einwanderer ohne französische Staatsbürgerschaft unsicherer und gefährlicher geworden. 1993 brandmarkte der damalige rechte Innenminister Charles Pasqua z.B. alle Nichtfranzosen in Frankreich als Feinde der Öffentlichen Ordnung.

Die besondere Rolle der Frauen im Kampf der Sans-Papiers lässt Cissé zufolge viele Aktivistinnen zu einer List der Vernunft greifen. Die Frauen garantieren - wie im traditionellen Familienzusammenhang üblich - den Zusammenhalt der Gruppe, auch in schwierigen Situationen. Aber diese Orientierung an der tradierten Rolle und die anfängliche Zurückhaltung verlieren sich im Verlauf der dreijährigen Auseinandersetzung mit dem französischen Staat, der eigenen Familie, den französischen Verbündeten und der Öffentlichkeit. Schließlich ist eine Frau Sprecherin der Bewegung.

Nicht zuletzt macht die Geschichte der im Senegal geborenen Madjiguène Cissé das Buch überaus lesenswert. Ihre Biografie ist mit dem Kampf der Sans-Papiers eng verwoben. Cissé politisiert sich während der Ereignisse des Mai 1968 an der Universität von Dakar. Sie studiert Germanistik und beendet ihr Studium in Saarbrücken. Ihr Vorhaben, in Afrika als Deutschlehrerin zu arbeiten, muss sie aufgeben, die ökonomischen Umstände zwingen sie zurück nach Paris. Wie viele Einwanderinnen sieht sie Frankreich als ein liberales Land an, als Heimat der Menschenrechte, das ihr erlauben wird, für sich und ihre Familie zu sorgen und ein gutes Leben zu führen. Doch schnell erfährt sie, wie sie zu einer Fremden gemacht wird. Im Kollektiv der Sans-Papiers kann sie der Rolle einer Fremden, die für ein Almosen dankbar ist, entkommen.

Die Bewegung konnte sich behaupten durch Hartnäckigkeit; sie widerstand den Angeboten französischer Beamter, Einzelne zu legalisieren, um andere auszuweisen. Cissé lässt die Leser den Alltag diverser Besetzungen, Räumungen, Gefängnisaufenthalte, Hungerstreiks, Demonstrationen, Schikanen, Enttäuschungen und Erfolge miterleben. Sie idealisiert weder die Bewegung noch deren Erfolge. So wird deutlich, dass zu dem Wenigen, was erreicht wurde, persönliche Entbehrungen, Durchhaltevermögen, unglaubliche Organisationsfähigkeit und permanente Präsenz nötig waren, ein Kampf, der die Protagonisten häufig an den Rand der Erschöpfung brachte. Es fehlt auch nicht der Ausblick auf andere europäische Länder und die dortigen Organisationsformen der MigrantInnen.

Doch dieser fällt der Realität entsprechend eher trostlos aus. Das Buch endet mit der Demonstration in Erinnerung an den dritten Jahrestag der Räumung der Kirche Saint-Bernard am 21. September 1999. Die Sans-Papiers machen weiter.

Madjiguène Cissé: Papiere für alle. Die Bewegung der Sans-Papiers. Schwarze Risse / Rote Straße, Berlin 1999, 160 S., DM 20