Frohes Fest

Mit der Entschädigungsregelung für NS-Sklaven- und Zwangsarbeiter hat sich Deutschland das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht.

Die gute Nachricht zuerst: Weihnachten und Silvester werden schön. Zumindest in Deutschland. Niemand muss sich mehr Gedanken machen, dass der deutschen Exportwirtschaft und damit allen Deutschen im kommenden Jahr schwere Zeiten bevorstehen. Denn mit der endgültigen Vereinbarung zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter wird deutschen Firmen in den USA Rechtssicherheit gewährt. Dies versicherte US-Präsident William Clinton Mitte vergangener Woche Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Mehr als 54 Jahre nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg entschädigt Deutschland einen Teil seiner ehemaligen Zwangsarbeiter. Genauer: Jeder zehnte Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus erhält einen Bruchteil dessen, was ihm zusteht. Und das auch nicht sofort, sondern frühestens im Sommer des kommenden Jahres, vielleicht aber auch erst zum Jahresende 2000. Dann gibt es erstmals Geld. Nicht alles, sondern eine Abschlagszahlung von vermutlich 30 Prozent der Gesamtsumme. Für den, der bis dahin noch lebt.

Klaus von Münchhausen, der Bevollmächtigte von mehr als 3 000 Zwangsarbeitern, wies am Wochenende darauf hin, dass »im ablaufenden Jahr rund 100 000 Antragsteller, davon etwa 10 000 Juden« gestorben sind. Von den mehr als zehn Millionen im Nationalsozialismus eingesetzten Sklaven- und Zwangsarbeitern leben heute nach Schätzungen noch 1,6 Millionen. Nur die Hälfte von ihnen ist überhaupt anspruchsberechtigt, da alle Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft nicht bei der Entschädigungsregelung berücksichtigt wurden.

Für die anderen heißt es nun zu warten: Denn wann und wie die zehn Milliarden Mark an Entschädigungssumme, auf die sich am vergangenen Freitag Deutschland, die USA und Vertreter von Opferorganisationen geeinigt haben, ausgezahlt werden, ist noch offen - obwohl seit Monaten bei Verbänden ehemaliger Zwangsarbeiter und NS-Opfer zum Beispiel in Polen oder Tschechien alles für eine rasche Entschädigung der Zwangsarbeiter vorbereitet worden ist.

»Die Hoffnung auf Entschädigung vermischt sich mit der Bitterkeit, dass es 55 Jahre dauerte, Gerechtigkeit zu erlangen und dass viele Opfer diesen Tag nicht mehr erleben durften«, schrieb am vergangenen Freitag die tschechische Tageszeitung Pravo. Diese kleine Verzögerung bedauerte auch Bundespräsident Johannes Rau, doch hatte er auch rasch die Schuldigen gefunden: »Erst nachdem die Teilung Europas überwunden worden war, wurde es möglich, auch über diese Frage zu verhandeln.« Folglich sind die Alliierten, die die Teilung Europas, sprich: Deutschlands, zu verantworten haben, schuld.

Zwar ist Raus Bitte »im Namen des deutschen Volkes um Vergebung« für einen deutschen Politiker ungewöhnlich, sehr gewöhnlich hingegen ist seine Begründung: »Wir alle wissen, dass man die Opfer von Verbrechen mit Geld nicht wirklich entschädigen kann.« So entsorgt man den Nationalsozialismus und seine Opfer als Fall für den Weißen Ring, einer rechtskonservativen Organisation zum Schutz der Betroffenen von Banküberfällen und anderen Bagatelldelikten.

Auch Bundeskanzler Schröder ist zufrieden und sieht »eine nicht unwichtige Folge der nationalsozialistischen Herrschaft zwar nicht geheilt, aber gemildert«. Zehn Milliarden Mark, von denen je fünf auf die deutsche Wirtschaft und auf den deutschen Staat entfallen - für den Verhandlungsführer der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff, waren sie »ein kleines bisschen Wiedergutmachung«. Diese Summe habe eine Größenordnung, die akzeptabel und gerechtfertigt sei »und die wir uns auch zumuten müssen«. Sein Fazit: Die Einigung sei sein »schönstes Weihnachtsgeschenk« gewesen.

Da hat Lambsdorff Recht, zumindest was die Präsente unter dem deutschen Tannenbaum angeht. Immerhin spart allein die deutsche Wirtschaft 175 Milliarden Mark: Auf 180 Milliarden Mark, die deutsche Unternehmen den Zwangsarbeitern schulden, war zuletzt das Bremer Institut für Sozialgeschichte bei einer vorsichtigen Schätzung gekommen.

Nach dieser Rechnung hätte der Bund, weil er als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches die Arbeitssklaven im öffentlichen Dienst entschädigen müsste, mehr als 300 Milliarden Mark gespart. Und da sich für die Entschädigung der mehr als vier Millionen Zwangsarbeiter in der deutschen Landwirtschaft niemand zuständig fühlte, hätte auch hier, als ideeller Gesamtdeutscher, der Staat zu zahlen: So aber lassen sich weitere 350 Milliarden Mark auf der Haben-Seite verbuchen.

Hinzu kommt das Image-Surplus Deutschlands: Der deutsche Staat hat, indem er die bis vor zwei Wochen fehlenden zwei Milliarden Mark doch noch zusagte, eine Selbstverständlichkeit in etwas Besonderes verwandelt: Wenn jetzt noch in Deutschland darüber gestritten wird, wer - außer den Alliierten - die Verzögerung zu verantworten hat und woher die zehn Milliarden überhaupt kommen sollen, so stehen allenfalls einzelne Firmen, die sich nicht am Fonds der Deutschen Wirtschaft beteiligen wollten, unter Druck.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erklärte am Wochenende, offenbar sei noch immer »moralischer Druck auf zahlungsunwillige Firmen« nötig. Die IG Metall sucht seit der Einigung auf der veröffentlichten Liste deutscher Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, gezielt nach Unternehmen der Metallbranche. Sie sollen aufgefordert werden, sich an dem Fonds zu beteiligen. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel ruft »die Verbraucher« sogar zu einem Boykott aller entschädigungsunwilligen Unternehmen auf.

Dabei wurde der Lohn für Zwangsarbeiter im Dritten Reich von den jeweiligen Unternehmen zum überwiegenden Teil als »Ostarbeiter-Abgabe« an die Reichsregierung abgeführt. »Jeder Krankenhausaufenthalt, jede Witwenrente, jede Soldzahlung war zu einem guten Teil aus den Erträgen der Zwangsarbeit finanziert«, schrieb Götz Aly bereits im Februar in der Berliner Zeitung. Aber weder eine Zwangsabgabe für deutsche Rentner noch Zahlungen der Bauernverbände oder der Krankenkassen standen zur Diskussion. Nicht einmal zu einer Entschädigungs-Aufforderung an den Bund der Vertriebenen konnte sich hierzulande irgend jemand aufraffen. Mehrere Hunderttausend Zwangsarbeiter wurden über Jahre in Gebieten, die von den Vertriebenen bis heute als Schlesien, Pommern, Sudetenland oder Ostpreußen bezeichnet werden, ausgebeutet.

So reduziert man in Deutschland die Kritik der kapitalistischen Verhältnisse auf einen Konsumenten-Boykott gegen Knorr oder die Zuckerfabrik Jülich und spricht ganz nebenbei die größten Profiteure von Sklaven- und Zwangsarbeit von jeder Verantwortung frei: den deutschen Staat und seine Bevölkerung. Fein raus sind auch alle Firmen, die einen Teil ihrer Portokasse an den Stiftungsfonds überwiesen haben oder die an Gnadenerweisen in Form von individuellen Entschädigungsregelungen arbeiten.

Wie man die ehemaligen Zwangsarbeiter sogar noch werbewirksam für das Unternehmens-Image einbinden kann, demonstrierte am vergangenen Freitag vorbildlich der Volkswagen-Konzern in Wolfsburg: Als erste Firma in Deutschland eröffnete er eine Gedenkstätte für Zwangsarbeiter - in einem ehemaligen Luftschutzbunker. Damit die wenigen Überlebenden heute wenigstens das dürfen, was den mehr als 20 000 VW-Zwangsarbeitern im Krieg verwehrt blieb: den Bunker bei einem Angriff betreten zu können.