Out of Control

Bei einer Polizeikontrolle tötete der westafrikanische Flüchtling Otomo zwei Polizisten. Frieder Schlaich hat den Fall verfilmt.

Heißt er Albert Ament? Oder Frederic Otomo? Kommt er aus Liberia? Aus Kamerun? Egal, wer rechtzeitig seinen Pass vernichtet, kann wenigstens nicht kurzerhand abgeschoben werden. Die Schicksale sind meist die gleichen. Eingereist als Asylsuchender, allein in einer deutschen Großstadt, ohne Arbeitserlaubnis, bleibt nur eines: warten.

Es ist fünf Uhr in der Frühe. Otomo wartet seit über acht Jahren. Auf eine Anerkennung als Asylbewerber? Auf Freunde? Vielleicht erhofft er sich nur, eines Morgens doch auch ohne Papiere bei der Jobbörse am Großmarkt eine der mies bezahlten Tagelöhner-Stellen zu bekommen. Sicher ist: Er will weg, raus aus diesem Kolpinghaus im Zentrum der Stadt, wo ihm die Caritas acht Quadratmeter Bleibe inklusive Bett in schäbigen Gemäuern finanziert. Nein, sicher ist gar nichts. Vielleicht deponiert er ja jeden Morgen seinen Koffer beim Pförtner mit den Worten: »Ich reise heute ab.« Man weiß es nicht. An diesem Abend jedenfalls wird er seine Habe nicht wieder abholen. Wenige Stunden, nachdem er den Schlafplatz verlässt, ist Otomo tot.

Das allein würde heute kaum mehr den Stoff hergeben, der einen Spielfilm tauglich macht für die Berlinale 2000 oder die Internationalen Filmtage in Hof, wo der Film bereits im vergangenen Jahr Premiere hatte. Schließlich erregt der Tod eines Asylsuchenden kaum noch Aufsehen, die über 100 Flüchtlinge, die gewaltsam starben, seit Deutschland die Mauern fallen ließ, sind bestenfalls eine Meldung wert. Der Fall Otomo liegt anders. Der Hass, den Asylsuchende hier ertragen müssen, ließ den Westafrikaner vom Opfer zum Täter werden. Zum Mörder. Und den wollte die Öffentlichkeit wahrnehmen.

Frieder Schlaichs Film »Otomo« basiert auf einem Ereignis, das sich wenige Monate vor dem deutsch-deutschen Showdown 1989 im Stuttgarter Osten abspielte: Am frühen Morgen des 8. August wird der abgelehnte westafrikanische Asylsuchende Frederic Otomo bei einer Fahrausweiskontrolle festgehalten. Obwohl er einen gültigen Fahrschein besitzt, kommt es zu Rangeleien. Otomo gerät in Panik, reißt sich los, kann flüchten. Drei Stunden später wird er auf einer Brücke von zwei Polizisten gestoppt. Ein weiterer Streifenwagen und ein VW-Bus der Polizei kommen hinzu, die Situation eskaliert, Otomo zieht ein Bajonettmesser und sticht um sich. In der Folge sterben zwei Beamten an den Stichwunden, Otomo selbst wird von mehreren Kugeln tödlich getroffen.

Man weiß um das tragische Ende, bevor der Film beginnt. Und so wird fast jede Person oder jedes Lärmen vorbeifahrender U-Bahnen zum Wegweiser: Hier lang geht's zur finalen Tragödie. Was zweifellos den Alltag vieler Schwarzer in Deutschland widerspiegelt, wirkt wohl gerade deshalb abgegriffen: demütigende Blicke in der Straßenbahn, aggressive Kontrolleure, arrogante Jobvermittler, rassistische Bullen. Ebenso der good cop, die halb verlogene, halb solidarische Freundlichkeit der Underdogs in der abgewanzten Eckkneipe oder die autoritären Sprüche eines Wohnheimbetreibers: »Das Schlimmste sind für mich die Asylanten, die man nicht nach Hause schickt, weil die hier ja den Frust kriegen müssen.« Eben von jedem und für jede etwas.

Die Entscheidung, die Erfahrungen Otomos auf diese Art in Szene zu setzen, hat viel damit zu tun, wie die Öffentlichkeit auf den Fall reagierte. Der Film will nachholen, was vor elf Jahren keiner leistete. Nicht die bürgerliche Politik, nicht die Presse, nicht die Antifa. Niemand stellte öffentlich die Frage, warum der Flüchtling so reagierte. Niemand wollte die Hintergründe wissen, geschweige denn verstehen. Im Gegenteil: Der CSU-Generalsekretär Erwin Huber nutzte den Vorfall, um seinen Forderungen nach einer Verschärfung der Asyl- und Abschiebepraxis Nachdruck zu verleihen, Polizeigewerkschafter machten eine »verfehlte Asylpolitik« für die »Morde an den beiden Polizeikollegen« verantwortlich.

Wer dennoch, wie etwa der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, zum Nachdenken mahnte, zog die gesammelte Energie des deutschen Volkszorns auf sich. Sein Satz, »es hätte auch ein Weißer, es hätte auch ein Schwabe sein können«, rief nicht nur heftigste Reaktionen auf den Leserbriefseiten der heimischen Presse hervor. Rommel erhielt zahlreiche Drohbriefe, selbst Parteifreunde kritisierten die vorsichtigen Äußerungen des Unionspolitikers. »Der Schlächter wollte morden«, wusste der Boulevard im Einklang mit dem Rest der schwäbischen Welt. In dieser Zeit, in den Jahren nach dem Vorfall, sagt Regisseur Schlaich, hätte der Film nicht gedreht werden können. Zuständige Stellen und Beteiligte hätten sich ablehnend verhalten, erst viel später habe die Polizei die Akten herausgerückt. Noch jetzt, elf Jahre nach der Tat, sorgte der Film in Stuttgart, wo er im vergangenen Dezember in den Kinos anlief, für Aufregung.

Der Drehort: Originalschauplatz Stuttgart-Ost, Gaisburger Brücke, Großmarkt, Schlachthof, Industriegebiet, Hafen, einst Babystrich - eine der Gegenden in der Stadt, die nicht nach Kleinbürgerlichkeit und Geld stinken. Eher nach klassischer Großstadt-Monotonie. Verstärkt durch entsprechende Kameraeinstellungen, HipHop vom Freundeskreis-Komponisten Don Phillippe und Otomo-Darsteller Isaach de Bankolé, der zuletzt in Jim Jarmuschs »Ghost Dog« zu sehen war, erinnert manche Szene an New Yorker Getto-Flair - radikal gebrochen von Darstellungen schwäbischer Biederkeit. Schlaich holt noch weiter aus: Zunächst als Dokumentarfilm geplant, drehte er seinen Spielfilm bewusst an trüben Oktobertagen, obwohl sich der Vorfall mitten im Sommer ereignet hat.

Aber braucht es noch das Selbstmord-Wetter, um die armseligen Lebensbedingungen abgelehnter Asylsuchender zu inszenieren? Soll Mitleid die Volksseele zähmen? Muss man den deutschen Fernsehzuschauer - »Otomo« wurde in Zusammenarbeit mit der ZDF-Reihe »Das Kleine Fernsehspiel« gedreht - wirklich gewaltsam mit dem Kopf in die Scheiße stecken, um Nachdenken auszulösen?

Einzig die Althippie-Frau Gisela, gespielt von Eva Mattes, durchbricht auf den ersten Blick die Auswegslosigkeit. Auf den ersten Blick. Denn auch sie gibt nicht den selbstlosen Engel ab, den man sich im Laufe des Films, wenn auch nur als Kunstgriff, manchmal herbeiwünscht. Getrieben vom Spiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen Angst und Anziehung, öffnet sie sich dem Fremden. Afrika findet sie gut, weil dort »die Leute so viel tanzen«, und Duala klingt richtig schön, richtig exotisch. Kurzerhand besorgt sie ihm das Geld, das Otomo braucht, um mit Hilfe eines Lkw-Fahrers zu flüchten. Raus aus Deutschland, über die Grenze nach Holland. Was scheitert, weil Otomo zu spät zum Parkplatz kommt. Es ist gegen neun Uhr am Vormittag.

Spätestens hier endet die Fiktion, die den Spielfilm von einer Dokumentation unterscheidet. Am 9. August 1989 um 9 Uhr 17 geht in der Funkleitzentrale der Stuttgarter Polizei ein Notruf ein: »Dringend Notarzt zur Gaisburger Brücke, mehrere Kollegen durch Bauch ... zwei Notärzte, der Neger ist wahrscheinlich tot Ö erschossen.«

»Otomo«. (D 1999). R: Frieder Schlaich. D: Isaach de Bankolé, Eva Mattes. M: Freundeskreis