Reggae-Reissues

Gemeinsamer Nenner

Wenn es eine Musik gibt, die alle innerstädtischen Kleinplattenläden in ihrem Innersten zusammenhält, ist das Reggae. Ob Technoplatten-Laden, Secondhand- oder Indierock-Geschäft, ob Skinheadladen - überall stehen Wiederveröffentlichungen alter jamaikanischer Musik in den Regalen, ganz egal, was sich dort sonst noch tummelt. Bei Reggae scheint jeder das zu finden, was er sucht: Die restpolitisierten Postrockisten stillen hier ihr Verlangen nach Dissidenz, die Techno-Intellektuellen bekommen ihren Ursprung der repetitiven Musik. Und die mit US-afro-amerikanischer Musik Sozialisierten bekommen Stücke, die immer auch den dort regierenden Sound reflektieren.

Vielleicht sind es aber auch die Liner Notes, die diese Musik so konsensfähig machen, denn Reggae ist das letzte Genre von Popmusik, das diese große Text-Tradition hochhält. In gebrochener Form zwar, denn die Begleitschreiben funktionieren natürlich anders als entsprechende Texte auf den Hüllen alter Jazzplatten, aber der Enthusiasmus und die Liebe zum abgelegenen Detail sind geblieben. Nur dass hier niemand direkt aus einem Studio berichtet, in dem gerade Sensationelles passiert ist - stattdessen hat jemand ein Studio entdeckt, in dem vor langer Zeit einmal Sensationelles passierte. Auf jeden Fall wird so das Bedürfnis nach einer ordnenden Hand im Durcheinander der zahllosen Sänger, Produzenten und Stile bedient - und das teilen ja alle, die kleine Plattenläden frequentieren und sich aus den dort erworbenen Tonträgern Teile ihrer Identität zusammenbasteln.

Blood & Fire und Pressure Sounds heißen zwei der Reggae-Wiederveröffentlichungslabel, und so sehr sie sich Konkurrenz machen, so sehr ähneln sich die Platten in der Aufmachung: Ein altes, leicht bearbeitetes Foto auf dem Cover, ausführliche Liner Notes im Booklet und Abbildungen der Labels der Original-Singles auf der CD oder im Innencover.

Phil Pratt ist das Objekt einer Pressure-Sounds-Compilation, ein begnadeter Produzent, für den von Ken Boothe bis zu den Heptones alle möglichen Sänger und Vocal-Groups sich das Mikrofon in die Hand gaben. Pratt ist einer der großen Unbekannten des Reggae, was vor allem daran liegt, dass er nie Interviews gibt und nur tut, was er zu tun hat, nämlich Stück auf Stück zu produzieren, eines schöner als das andere. Das ist meist klassischer Dancehall-Reggae, also die jamaikanische Variante von dem, was in den USA als Soul verkauft wurde.

Blood & Fire widmet die jüngste Compilation dem Werk von Trinity, einem der Sänger aus der zweiten Generation von DeeJays. Das waren nicht etwa die, die bei Partys die Platten drehten, sondern Sänger, die live über den Sound improvisierten, die der Selecta, der DJ also, auflegte, und sich so von den strikten Songvorgaben des Reggae lösten und eine offenere Form fanden. Diese andere Art zu singen ging auch mit anderen Themen einher, die Texte wurden politischer oder verhandelten die Rasta-Religion. Produziert wurden die Stücke von Vivian Jackson alias Yabby You in den Studios des Großmeisters King Tubby. »Shanty Town Determination« kam 1977 schon einmal in einer Auflage von 1 000 Kopien heraus, um dann dem Vergessen anheim zu fallen.

Phil Pratt: »Thing«. Pressure Sounds (EFA)
Trinity: »Shanty Town Determination«. Blood & Fire (Indigo)