Unruhen in Nigeria

Im Schatten der Scharia

Aus den Auseinandersetzungen um die Einführung der islamischen Rechtsordnung droht in Nigeria ein Bürgerkrieg zu werden.

Demonstrationen und Gegendemonstrationen, Hunderte Tote, Terror in zahlreichen Städten und nun auch noch ein Konflikt zwischen der Zentralregierung und den Regionen: Seit Wochen droht der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, Nigeria, in einem Bürgerkrieg zu versinken.

Das Drama begann, als am 20. Februar eine christliche Demonstration gegen die Einführung des islamischen Rechts - der Scharia - in Kaduna, der Hauptstadt des gleichnamigen nordnigerianischen Bundesstaates, durchgeführt wurde. Die Kämpfer für die Scharia hatten sich auf den Auftritt ihrer Gegner gut vorbereitet. In kurzer Zeit brachten sie die wichtigsten Plätze Kadunas unter Kontrolle, in den beiden folgenden Nächten terrorisierten bewaffnete Banden Stadtviertel mit überwiegend christlicher Bevölkerung. Auch in anderen nigerianischen Städten kam es zu Unruhen. Dabei wurden mehr als 400 Muslime getötet.

Präsident Olusegun Obasanjo reagierte umgehend: Gegenüber der nordnigerianischen Oligarchie, die durch die provokative Einführung der Scharia den Konflikt heraufbeschworen hatte, erklärte er nach einem Treffen mit den Gouverneuren aller 36 Bundesstaaten die Scharia für ungültig. Doch schon am Tag darauf unterzeichnete der Gouverneur von Kano ein Scharia-Gesetz.

Auch andere Gouverneure beharrten darauf, nicht an Obasanjos Weisung gebunden zu sein. Wichtige Politiker des Nordens, unter ihnen mit Shehu Shagari und General Muhammadu Buhari zwei ehemalige Staatschefs, behaupteten gar, die Abschaffung der Scharia durch die Zentralregierung sei illegal. Am 8. März mündete eine islamistische Demonstration in Sokoto in neue Gewalttaten. Obasanjo konnte die Gouverneure nur zu der Zusage bewegen, sich in der Scharia-Frage zurückzuhalten. Seine Regierung wagt seither nicht, mit einer konsequenten Durchsetzung der Zentralgewalt zu reagieren.

Obwohl Islamisten an den Massakern beteiligt waren, ging die Initiative von der islamischen Oligarchie und ihren Verbündeten im Militärapparat aus. Ein Teil der Koalition, die Obasanjos Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Februar 1999 gesichert hatte, wendet sich nun gegen ihn. Da klingt es beschönigend, wenn sein Sprecher Doyin Okupe erklärt: »Was wir durchleben, sind das anfängliche Trauma und die Schmerzen, die die Geburt einer Demokratie begleiten.«

Es könnte auch der Todeskampf der Zivilherrschaft sein. Kaum ein Landesteil ist von blutigen Konflikten zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschont. Die versprochenen Zugeständnisse an die diskriminierten Bevölkerungsgruppen in den Öl-Fördergebieten des Niger-Deltas waren zu halbherzig und kamen zu spät, um die Gemüter zu beruhigen, zumal der Militärterror weitergeht.

In den Gebieten »seiner« Bevölkerungsgruppe, der Yoruba, wird Obasanjo von der radikalen Bewegung Oodua People's Congress (OPC) als Verräter betrachtet, der die Vorherrschaft des Nordens nur getarnt, nicht aber gebrochen hat. Sowohl der OPC als auch radikale Milizen im Niger-Delta drohen mit Separatismus, wenn die Zentralregierung ihren Forderungen nach einer gerechteren Verteilung von Macht und Ressourcen nicht nachkommt.

Die Scharia-Unruhen haben nicht allein die Konflikte auf eine bislang verschont gebliebene Region ausgeweitet, sondern auch das Trauma des Biafra-Krieges wieder erweckt. Die Gewalt richtet sich vorrangig gegen die Igbo - ein von Igbo-Offizieren geführter Sezessionsversuch hatte 1966 zu einem dreijährigen Bürgerkrieg geführt, der ein bis zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Anlass für den Versuch, einen Staat Biafra aus Nigeria herauszutrennen, waren Massaker an Igbo in Nordnigeria.

Anfang März drohten nun die fünf Gouverneure der südöstlichen Bundesstaaten in einer gemeinsamen Erklärung: »Jeder weitere Angriff auf Menschen aus dem Osten wird uns dazu zwingen, unseren Glauben an das Weiterbestehen einer gemeinsamen Existenz in Nigeria zu überdenken.« Dass Sprecher aller Bevölkerungsgruppen über ihre Benachteiligung klagen, gibt Obasanjo die Möglichkeit, sich als Vertreter der nationalen Einheit gegen den Egoismus der Regionen darzustellen.

Der Ex-Militärdiktator und spätere Oppositionelle Obasanjo war zwar immer ein Mann der Oligarchie, der sich Demokratisierung vor allem als Interessenausgleich zwischen deren verschiedenen Fraktionen vorstellt. Einmal an der Macht, propagierte er aber, dass der Wiederaufbau der Wirtschaft auch für Teile der Oligarchie unbequeme Maßnahmen erfordere, nicht zuletzt den Kampf gegen die Korruption.

Vor allem die Zwangspensionierung von Offizieren und der Versuch, Tarnfirmen von Generälen aus dem Öl-Geschäft zu verdrängen, haben im Norden für Ärger gesorgt - insbesondere bei jenen, die, wie der ehemalige Militärdiktator Ibrahim Babangida, Obasanjos Wahlkampf mitfinanziert hatten und sich nun betrogen fühlten. Babangida und andere ehemalige Unterstützer verbündeten sich denn auch rasch mit den Anhängern des verstorbenen Ex-Diktators Sani Abacha, die im Juli 1999 die Bewegung für die Scharia im Bundesstaat Zamfara begonnen hatten.

Der Schwenk zur fundamentalistischen Sittenstrenge kam für die Bevölkerung überraschend. Im Wahlkampf des letzten Jahres hatte die Scharia keine Rolle gespielt; damals hatten die Politiker, so Altine Binta von Women in Nigeria, noch »all diese freizügigen Frauen mit lockeren Moralvorstellungen auf Stimmenfang geschickt«. Mit Hilfe der Scharia, die der Zentralregierung das Justizwesen weitgehend entziehen würde, will der Norden seine Macht ausbauen. Auch Oppositionelle wie Binta müssen die Scharia fürchten: »Sie glauben, dass die Scharia das strengstmögliche Gesetz ist, und sie wollen die Massen unterdrücken, sodass niemand sie zur Verantwortung ziehen kann.«

Die Oligarchie des Nordens kann über gezielte Vorstöße bei der Anwendung der Scharia die Zentralregierung vorführen und destabilisieren. Am Separatismus hat sie kein Interesse, denn das Öl, das 90 Prozent der Deviseneinnahmen einbringt, wird allein im Süden gefördert. Obasanjo steht vor der Wahl, sich durch Zugeständnisse Ruhe zu erkaufen oder eine Konfrontation zu wagen, bei der er sich der Loyalität seiner engsten Mitarbeiter nicht sicher sein kann: Einer seiner Minister soll 2000 Islamisten für den Kampf gegen die Scharia-Gegner rekrutiert haben.

Eine Gruppe von Politikern aus dem Norden hat nun den Obersten Gerichtshof angerufen, um über die Verfassungsmäßigkeit der Scharia entscheiden zu lassen. Die juristische Lage ist klar, denn die Verfassung verbietet die Einführung einer Staatsreligion und garantiert das Recht auf den Übertritt zu einer anderen Religion, während die Scharia für abtrünnige Muslime die Todesstrafe vorsieht.

Allerdings gelten die obersten Richter als Günstlinge des reaktionärsten Flügels der nordnigerianischen Oligarchie. Am 13. März sprach sich Obasanjo für eine »politische Lösung« aus, denn, so sein Sprecher Okupe: »Eine juristische Lösung könnte zu Chaos, Unruhe und weiteren Feindseligkeiten führen«.