»Charta 2000«

Auf ins Getümmel!

Bourdieus Kritik am Neoliberalismus ist zwar verkürzte Kapitalismus-Kritik. Die soziale Mobilisierung muss aber nicht dabei stehen bleiben.

Natürlich hat Carlos Kunze soweit Recht: Es ist höchst unerquicklich, den politischen Streit rund um die Frage des richtigen Mischungsverhältnisses zwischen »Markt« und »Staat« innerhalb des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs zu führen. Als Höchststrafe droht dem Delinquenten, sich auf einem SPD-Forum über »Werte«, die es - bei allem »notwendigen (marktwirtschaftlichen) Realitätssinn« - zu berücksichtigen gelte, totlabern zu lassen.

Aber nicht alle, die sich aktuell im (Abwehr-)Kampf gegen den Neoliberalismus engagieren, bleiben gedanklich und praktisch in dieser Schein-Alternative »Markt oder bürgerlicher Staat« stecken. In der Tat ist es problematisch, dass die Kritik am Neoliberalismus, das heißt am Vordringen des Marktes auf Kosten des Staates - in seinen sozialstaatlich regulierenden Funktionen -, in breiten Kreisen jene am Kapitalismus verdrängt hat. Dies schwächt die Restbestände linken Bewusstseins weiter.

Tatsächlich erklärt die Pseudo-Alternative »Markt oder Staat« überhaupt nichts. Denn auch die aggressivsten oder fortgeschrittensten neuen Formen des Kapitalismus gehen nicht unbedingt mit »weniger Staat« einher. Man denke nur an den gigantischen Ausbau des Polizei- und insbesondere des Gefängnisapparats in den letzten Jahren in den USA. Die Frage ist eher, welche Funktionen innerhalb des Staates, der die Klassenbeziehungen überspannt, ausgebaut und welche abgebaut werden - und das ist ein Ausdruck sozialer Kräfteverhältnisse.

Politisch nicht weniger problematisch ist daher, wenn KritikerInnen der neuen Zustände sich im Gegenzug positiv auf die vor 1975 vorherrschende Konfiguration innerhalb der dominierenden Gesellschaftsordnung beziehen. Nichts anderes tut Pierre Bourdieu, wenn auch in theoretisch veredelter Form.

Doch dies bedeutet keineswegs, dass soziale Mobilisierungen, die von solchen Kritikern angeschoben oder begleitet werden, deswegen notwendig der herrschenden Ordnung - bloß eben in ihrer »alten« und inzwischen überholten Form - verhaftet bleiben müssen. Jene, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Gewerkschaften und Arbeitervereinigungen gründeten, beriefen sich in Frankreich zunächst ebenfalls auf eine vorangegangene Form der (zuvor) etablierten sozialen Ordnung - nämlich auf das Zunftwesen, das 1791 durch das Chapelier-Gesetz zerschlagen worden war. Die abhängig Beschäftigten blieben schutzlos zurück, da ihnen nunmehr jeglicher kollektive Zusammenschluss verboten war. Als die Dynamik eines kollektiven Solidar-Zusammenschlusses der Ausgebeuteten in Gang gesetzt war, nahm jedoch etwas ganz anderes Gestalt an als die ohnehin unmögliche Rückkehr zur alten Feudal-Ordnung.

Ähnlich kann heute eine soziale Mobilisierung, die sich zunächst notwendig gegen die schärfsten Angriffe auf soziale Rechte und Schutzpositionen - im Rahmen des Neoliberalismus - richtet, zu etwas anderem führen als zur Wiederherstellung der vor 1975 dominierenden Regulierungsformen des Kapitalismus. Heute gehören diese unwiederbringlich der Geschichte an.

Entscheidend ist, dass Bourdieu und die anderen Urheber der Charta 2000 etwas Richtiges einfordern: das Zusammenführen sozialer Widerstands-Potenziale, einerseits über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg, hinter denen sie viel zu lange isoliert blieben, und andererseits jenseits thematischer Begrenzungen und Ein-Punkt-Mobilisierungen. Das erste ist ebenso notwendig wie das zweite. Denn nach wie vor ist es keineswegs selbstverständlich, dass Gewerkschafter mit »illegalen« Immigranten - der französische Begriff »sans papiers« ist in der deutschen Fassung des Aufrufs fälschlich mit »Staatenlose« wiedergegeben - oder UmweltschützerInnen, die potenziell Arbeitsplätze in umweltzerstörenden Produktionen bedrohen, an einer gemeinsamen Perspektive arbeiten.

Das Abschluss-Argument von Carlos Kunze, wonach eine soziale Mobilisierung - im konkreten Fall auf der Ebene des neu heranwachsenden EU-Blocks - auch mit nationalistischen oder faschistischen, in diesem Falle anti-amerikanischen, Begründungen und Zielen besetzt werden kann, trifft zwar zu. Es kann aber auf nahezu jeden sozialen Kampf angewandt werden - jedenfalls solange ein soziales Ziel isoliert verfolgt wird. Der beste Schutz dagegen ist, soziale Ziele und Forderungen in einen politischen Kontext einzubetten, der eine solche inhaltliche Bestimmung nicht zulässt - namentlich sozial-ökonomische Proteste mit den Anliegen jener zusammenzuführen, die durch den etablierten Rassismus der bestehenden Gesellschaft auf die unterste Ebene der sozialen Hierarchie verbannt werden, beispielsweise »illegale« Immigranten.