Der Wiener Zentralfriedhof

Gang über Leichen

Eurotop II: Auf dem Wiener Zentralfriedhof hat der österreichische Antisemitismus seine Spuren hinterlassen.

Das Loch in der Mauer ist ziemlich groß. Hier, im hinteren Teil des Wiener Zentralfriedhofs, wo die jüdischen Gräber liegen, ist die Außenmauer ohnehin in einem desolaten Zustand. Es bedarf keines besonderen Vorsatzes, um dort einzusteigen, meint Ari Joskowicz vom Wiener Forum gegen Antisemitismus. Die Täter, die dort vor ein paar Monaten eindrangen, konnten insgesamt elf Grabsteine umstoßen, ohne sich besonders anstrengen zu müssen.

Die Mauer ist an mehreren Stellen zerstört, draußen fällt der Blick auf Fabrikschlote, Bahngleise, Sperrmüll: Eine Gstettn nennt man das in Österreich - ein zersiedeltes Vorstadtareal. Diesseits der Mauer ist es keineswegs romantischer. Die kleinen Gräber werden seit Jahrzehnten nicht mehr gepflegt und verfallen zwischen dichtem Gestrüpp. Joskowicz hat die Aufgabe, die mutwillige Zerstörung der Grabsteine zu dokumentieren.

Mit dem süßen und todestrunkenen Kitsch, der in der Wiener Folklore immer wieder mit dem Zentralfriedhof in Verbindung gebracht wird, hat das alles nichts zu tun. Denn dieses Gräberfeld ist vor allem deshalb so berühmt, weil in den Tod verliebte Künstler es seit jeher als Projektionsfläche benutzten. Der Barde Wolfgang Ambros ließ in den siebziger Jahren auf dem Zentralfriedhof die Leichen tanzen: Es sei »makaber«, wie dort nachts »Jud'n« mit Arabern das Tanzbein schwingen. Oder Pfarrer mit Huren. Die bedrohliche Auflösung aller Unterschiede, die Gleichheit vor dem Tod - das ist der traumatische Kern, der sich immer wieder im Mythos des Zentralfriedhofs findet.

Dabei war dieser ausdrücklich als universalistisch-utopisches Projekt angelegt: als ein Konfessionen und Nationalitäten übergreifendes Bekenntnis zum k.u.k.- Zentralismus. Dort sollten Angehörige aller Religionen unterschiedlos auf einem Friedhof bestattet werden können. Die partikularistische Realität der Monarchie zeigte sich jedoch schon bei der Eröffnung 1874 in Form eines abgeteilten israelitischen Bereichs. Einige der konfessionellen Sektionen sind heute sogar durch Mauern abgeteilt.

Nicht nur in dieser Hinsicht liest sich der Zentralfriedhof wie eine historisch sedimentierte Karte der politischen Landschaft Österreichs. Ausgerechnet im Tod, vor dem doch angeblich alle gleich sind, zeichnen sich hier die politischen Konflikte und die traditionsreichen Ressentiments der österreichischen Gesellschaft ab. Auch das neue schwarz-blaue Regime scheint sich schon bemerkbar zu machen.

Nein, meint Joskowicz. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen den aktuellen politischen Ereignissen und den antisemitischen Grabschändungen auf dem Zentralfriedhof. Solche Vorkommnisse seien gewissermaßen Teil der Normalität.

Zu dieser Normalität gehört auch, dass prominente SPÖ-Politiker wie der ehemalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk abstreiten, dass in Österreich immer wieder jüdische Gräber beschädigt werden. Weder gebe es Grabschändungen noch würden in Österreich Flüchtlingsheime brennen. Die EU-Sanktionen seien daher überflüssig - ein Beispiel des »linken Patriotismus«, auf den SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer derzeit seine gebeutelte Truppe einschwört. Tatsächlich sind die Beschädigungen auf Friedhöfen so häufig, dass sie in manchen Fällen nicht einmal an die Medien weitergegeben werden.

Der traditionsreiche österreichische Antisemitismus spiegelt sich sogar im Grundriss des Zentralfriedhofs wider. Seine Form erinnert an einen menschlichen Körper. Das Herzstück bildet die Dr. Karl-Lueger-Gedächtniskirche, ein kitschiger Jugendstilbau, der formal zwischen Basilika und Bonbonniere laviert. Der ehemalige Wiener Bürgermeister Lueger, auch der »fesche Karl« genannt, war ein Volkstribun wie Haider und ist wohl der populärste unter den Antisemiten in der politischen Geschichte Wiens. Er verglich Juden gerne mit Raubtieren. Sein Grab bildet den geometrischen Mittelpunkt des Friedhofs.

Dort, wo der Kopf des Zentralfriedhofs liegt, sind hingegen die »Opfer der Exekutive 1934« bestattet. Damit sind aber keineswegs die Arbeiter gemeint, die während des kurzen Aufstands gegen das austro-faschistische Dollfuss-Regime von Polizei und Bundesheer getötet wurden. Tatsächlich liegen dort die Polizisten und Soldaten beerdigt, die auf der Seite der Austrofaschisten in einem Bürgerkrieg umkamen, dessen Schatten noch heute über den aktuellen Auseinandersetzungen liegen.

Den Hintern des Friedhofs bildet der Eingang. Gleich gegenüber ist Ernst Kirchweger beerdigt. Er ist der Erste, der bei den politischen Kämpfen nach dem Krieg ums Leben kam. Der junge Kommunist wurde 1965 auf einer Demonstration ermordet. Er protestierte gegen den Professor Taras Borodajkewycz, der an der Hochschule für Welthandel durch antisemitische Tiraden aufgefallen war. Rechtsradikale Burschenschafter verteidigten damals den Professor, zogen »Hoch Auschwitz!« brüllend durch Wien und erschlugen Kirchweger mit einer Eisenstange. Auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bleibt er indirekt präsent: Nach einer der Demonstrationen gegen Schwarz-Blau belagerte die Polizei mitten in der Nacht das nach ihm benannte, besetzte Ernst-Kirchweger-Haus, um die dort vermuteten Autonomen zu schikanieren.

Antisemitismus und politischer Konflikt - die Gräber verweisen aus der Tiefe der Geschichte auf die Gegenwart. Der Zentralfriedhof erinnert an jene politischen Konflikte, die in der österreichischen Konsenskultur gern verdrängt werden.

Joskowicz zeigt auf drei Grabsteine, die zerbrochen auf dem Boden liegen. Die Grabplatten sind so fragil, dass selbst ein unentschlossener Tritt genügt haben muss, um sie zu zerbrechen. Wie die Friedhofskartei vermeldet, sind Leib Singer, Naftali Gärtner und Chaim Langermann zwischen 1939 und 1940 in Buchenwald ermordet worden. In die Karteibögen wurde in der Rubrik »Urne« ein »Nein« eingetragen - schließlich dürfen orthodoxe Juden nicht verbrannt werden. Im Feld »Bemerkung« steht allerdings der Hinweis: Urne. In Buchenwald habe man sich die Form der Bestattung eben nicht aussuchen können, sagt Joskowicz.

Auf dem Weg finden wir ein weiteres umgeworfenes Grab, von dem nicht sicher ist, ob es erst kürzlich zerstört wurde. Der Friedhofsarbeiter, den Joskowicz danach fragen will, sucht schnell das Weite. Es sind eben nicht alle gleich. Nicht mal vor dem Tod.