Die große Anti-Wahl

Jugoslawien stimmt ab: Die Sozialistische Partei bietet Business as usual, die Opposition Nationalismus, Montenegros Regierungspartei Boykott.

Samstagnachmittag letzter Woche. Ein Kranz wird auf ein Grab gelegt. Für Draza Mihajlovic. Für Gott, Vaterland und Versöhnung. Gegen 55 Jahre Kriminalität, Lügen und Atheismus. So eröffnet die reaktionäre Serbische Erneuerungsbewegung (SPO) von Vuk Draskovic ihren Wahlkampf. Ihre Kampagne beginnt in der St. Georg Kirche in Oplenac, am Grab von Draza Mihajlovic, dem Kommandanten der königstreuen Tschetniks, der, nach anfänglichem Widerstand gegen die Nazis, umschwenkte und zusammen mit der Wehrmacht die titoistischen Partisanen bekämpfte.

Drazas Enkel, der Belgrader Bürgermeister Vojislav Mihajlovic, kandidiert für die SPO zum jugoslawischen Präsidenten. Aber seine Chancen tendieren gegen Null. Seine plötzliche Nominierung folgte direkt auf die Ernennung von Vojislav Kostunica zum Kandidaten der Vereinigten Demokratischen Opposition. Das ist ein Zusammenschluss der beiden großen Allianzen: des Bundes für Veränderung, der von der Demokratischen Partei Zoran Djin-djics dominiert wird, und des nicht-nationalistischen, eher sozialdemokratisch orientierten Bundes der demokratischen Parteien. Assoziiert ist die wirtschaftsliberale Gruppe G17plus.

Als sich die Vereinigte Demokratische Opposition auf den nationalistischen Präsidentschaftskandidaten Vojislav Kostunica einigte, grätschte die Serbische Erneuerungsbewegung zielsicher dazwischen, beendete ihre bisherige Wahlboykott-Politik und nominierte konkurrierend Drazas Enkel Vojislav Mihajlovic für das Präsidentenamt, was Kostunica entscheidende Stimmen kosten kann (Jungle World, 34/00).

Seit dieser oppositionellen Doppelkandidatur steigt Tag für Tag die politische Anspannung in der jugoslawischen Hauptstadt. Es bleiben nur noch vier Wochen. Dann wird zum ersten Mal nach dem Nato-Angriff in Jugoslawien gewählt. Am 24. September gilt es, über den jugoslawischen Präsidenten, die beiden Kammern des Bundesparlaments und die Stadträte in Serbien zu entscheiden.

Für den aktuellen Wahlkampf spielt eine wichtige Vorentscheidung eine Rolle: Am 6. Juli paukte Slobodan Milosevic eine Änderung von Verfassung und Wahlrecht durch das Bundesparlament. Eigentlich hätte Milosevic gar nicht mehr für eine weitere Legislaturperiode kandidieren dürfen. Aber jetzt kann er direkt vom Volk gewählt werden, und das nicht nur einmal, sondern sogar zweimal für jeweils vier Jahre. Milosevic könnte den Serben bis 2008 erhalten bleiben. Im Klartext bedeutet diese Verfassungsänderung, dass der Präsident nicht mehr vonm paritätisch besetzten föderalen Rat der Republiken gewählt wird, in dem 20 montenegrinische und 20 serbische Abgeordnete sitzen, sondern von einer Bevölkerung, in der neben etwa sechs Millionen SerbInnen nur 600 000 MontenegrinerInnen leben.

Das hat die Regierungspartei der kleineren Partner-Republik zum Anlass genommen, einen Wahlboykott zu verkünden. Schon seit 1998, als Milo Djukanovic montenegrinischer Präsident wurde, setzt seine Demokratische Partei der Sozialisten auf eine vorsichtige Sezessionspolitik. Mit der Boykottentscheidung und der erneuten Drohung, am Wahltag ein Unabhängigkeitsreferendum anzusetzen, ist sie ihrem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen (Jungle World, 33/00). Damit aber nicht alle Stimmen in Montenegro an die Milosevic-treue Sozialistische Volkspartei von Momir Bulatovic gehen, hat die Vereinigte Demokratische Opposition Serbiens in aller Eile eine Liste unabhängiger montenegrinischer Kandidaten zusammengestellt.

Im Jahr eins nach dem postkolonialen Nato-Angriff auf die Föderative Republik Jugoslawien steht also ein perspektivloser Wahlkampf an. Problem eins: Montenegros Regierungspartei boykottiert die Wahlen. Problem zwei: Die Opposition hat zwei konkurrierende Kandidaten aufgestellt - Kostunica und Mihajlovic. Problem drei: Mit Kostunica setzt auch der Zusammenschluss der Oppositionsbündnisse auf reinen Nationalismus. Gegen Milosevics Erfolgsrezept Nationalismus plus sozialistische Rhetorik verschreibt die Opposition die originelle Kombination Nationalismus plus antikommunistische Rhetorik.

Statt Milosevic wegen seiner nun 15 Jahre andauernden Politik des nationalistischen Populismus und der Ethnisierung des Sozialen zu kritisieren, wirft Kostunica ihm vor, Großserbien sei weiter entfernt denn je. Er wurde ins Spiel gebracht, um der anti-westlichen Regierungsstrategie eine eigene anti-westliche Option entgegenzusetzen.

Und diesen Auftrag führt Kostunica gewissenhaft aus. Seit Tagen attackiert er die imperialistische Einmischung der USA, die vor zwei Wochen ein Budapester Büro zur Unterstützung der serbischen Opposition eingerichtet hat. Aus purem Machtinteresse schießt die reaktionäre Serbische Erneuerungsbewegung noch gegen diese Rechtsaußen-Nominierung von Kostunica. Das führt auf lokaler Ebene zu einer Zerreißprobe der Partei. Die ersten Ortsverbände scheren aus, fordern Mihajlovic auf, seine Kandidatur zurückzuziehen und bilden mit der Vereinigten Opposition gemeinsame kommunale Wahllisten.

Dieser Streit in der Opposition und ihr geschlossen nationalistischer Kurs brachten mittlerweile rund ein Dutzend Roma-Organisationen dazu, eine eigene Wahlliste zusammenzustellen. Auf einer Pressekonferenz erklärten sie, nicht weiter bereit zu sein, als Stimmvieh für Parteien zu dienen, die sich in keiner Weise um die ökonomisch benachteiligte und rassistisch diskriminierte Minorität der Roma kümmerten.

Eine außerparlamentarische Opposition, die diese obskure oppositionelle Polit-Mischung aus Nationalimus, Kapitalismus, »Westintegration ja, Amerika nein« kritisieren würde, existiert nicht. So setzt auch Otpor seit Jahresbeginn auf 100 Prozent Anti-S.M.-Promotion. »Zuerst muss Milosevic weg, danach wird man weitersehen«, sagte Otpor-Sprecher Vuksin Petrovic der Jungle World.

Wegen dieser Lage erwartet die Belgrader Bevölkerung die kommenden Wochen mit einer Mischung aus Zynismus, Apathie und Trotz. Dass die gesellschaftliche Situation miserabel ist, darüber sind sich alle einig. Man streitet sich nur, wer dafür die Verantwortung trägt. Die einen beschuldigen Milosevics Politik, das Land in wirtschaftliche Misere und internationale Isolation getrieben zu haben. Die anderen sehen sich als Ziel westlicher Aggression, die insbesondere gegen Serbien gerichtet sei. Die monströs ausgefransten Löcher, die Nato-Bomben in die Gebäude des staatlichen Fernsehsenders oder des Generalstabs der Armee gerissen haben, bestätigen diese Einschätzung täglich.

Darüber hinaus ist die soziale Situation schlechter als je zuvor. Zwar steht in den Belgrader Schaufenstern alles, was das Leben lustig machen könnte - vom Fläschchen Rakija-Schnaps bis zu den neuesten Sneaker-Kollektionen von Nike oder Adidas. Während aber die Preise steigen, sank das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zehn Jahren von 6 000 auf nur noch 2 000 Mark. Dazu kommen dramatische Einschnitte in das einst recht gut funktionierende Netz sozialer Absicherung. Und selbst die schlechten Löhne für die glückliche Minderheit, die noch Arbeit hat, sind nicht garantiert. In vielen Betrieben werden die Gehälter erst nach monatelangen Verzögerungen ausgezahlt.

Die Regierungskoalition aus Milosevics Sozialistischer Partei (SPS), der Vereinigten Jugoslawischen Linken (JUL) und der faschistoiden Radikalen Partei (SRS), die das Feld nach Rechtsaußen sichert, will weitermachen wie bisher. Um zu signalisieren, dass sie notfalls auch ohne die Sozialisten Politik machen kann, hat die SRS mit Tomislav Nikolic einen eigenen Präsidentschaftskandidaten nominiert. Seine Politik der »serbischen Interessen« und sein Vorwurf, Milosevic habe das Kosovo verloren, könnten ihm eine beträchtliche Stimmenzahl einbringen, obwohl die Partei wegen ihrer Koalitionstätigkeiten für viele Wähler keine Option mehr darstellt. JUL und SPS versuchen währenddessen, die allgemeine Ablehnung gegenüber dem Westen, die Medien und die verbliebenen Spielräume staatlicher Verteilungspolitik für ihren Machterhalt zu nutzen.

So könnten am Ende alle politischen Akteure zufrieden sein: Milosevic darf weiter herrschen, der Westen behält seinen liebsten Schurken, die Separatisten in Montenegro können sich ihren Traum erfüllen, und die Belgrader Opposition muss nicht beweisen, dass sie innen- und sozialpolitisch keine Alternative zum Regime darstellt.