Zürcher Schauspielhaus unter Marthalers Leitung

Das Beste an Bestien

Christoph Marthaler ist zurück in der Schweiz und inszeniert im Zürcher Schauspielhaus »Hotel Angst«.

Zürich im Spätsommer ist besser als Hamburg und besser als Berlin: Bis spät in den September hinein ist das Wetter fast mediterran, und man kann mitten in der Stadt, im Oberen Letten-Schwimmbad in der Limmat, baden - was in der Elbe sowieso und in der Spree schon mal gerade gar nicht geht. Zürich dagegen ist mit Badestellen gesegnet, und Max Frisch hat hier seinerzeit als Architekt ein Schwimmbad namens Letzigrund entworfen.

Das kulturelle Klima der Stadt ist dementsprechend spätsommerlich und liberal-wohlwollend. Statt Ricola-Kräuterzucker isst man hier Ruccola. Die Schweizer Xenophobie - gerade ist das Volksbegehren, das den Ausländeranteil in der Schweiz auf 18 Prozent festzurren wollte, denkbar knapp gescheitert - ist hier weniger stark ausgeprägt als im Rest des Landes, was auch an den vielen Kulturschaffenden liegen könnte, die in Zürich arbeiten. Besonders ausgeprägt scheint die Achse Zürich-Hamburg, und man ist fast geneigt anzunehmen, dass Zürich das Hamburger Mallorca ist.

Der Hamburger Musiker Knarf Rellöm hat hier den ganzen Sommer über eine Bar betrieben, und der Schweizer Christoph Marthaler hat, als er die Leitung des Zürcher Schauspielhauses antrat, große Teile von Belegschaft und Ensemble des Hamburger Schauspielhauses rekrutiert. Wenn es noch eines Argumentes für Zürich bedurft hätte: Mit dem »Schiffbau« lockt ein großzügig ausgelegter Spielplatz in einer ehemaligen Industriehalle im aufstrebenden Westen der Stadt, und ein großzügiges Budget ist auch vorhanden.

Den deutschen Theaterbetrieb hat er aufgemischt, nun kehrt Christoph Marthaler gewissermaßen nach Hause zurück. »Nachdem er lange im Ausland gearbeitet hat, möchte er in das Land zurückgehen, aus dem er hergekommen ist und aus dem, wie er sagt, seine besondere Art der Beobachtung und sein Blick gekommen sind, um der Schweiz etwas von der Fantasie zurückzugeben, die er ihr verdankt«, heißt es im Programmheft zur ersten Spielzeit.

Sein erstes Stück, »Hotel Angst«, ist gleichermaßen eine als Liebeserklärung getarnte Provokation wie eine als Provokation getarnte Liebeserklärung an die Schweiz - ein ironischer Arschtritt als Willkommensgruß. Der Titel ist dabei Programm. Aus Angst vor der EU und der Globalisierung hat sich eine Handvoll Schweizer Spießer in einem Hotel mit typischem Interieur der Fünfziger verschanzt, wie man es noch allerorten in der Provinz antrifft. Blocher-Reden schwingend - der Schweizer Oberfaschist lieferte in der Tat die Vorlage für einige Textpassagen -, geraten sie dabei so in Rage, dass die beschürzten Serviermädchen sie ab und an mit Infusionen aus der Maggi-Flasche sedieren müssen.

Zum Glück steht auf jedem Tisch eines der typischen Maggi-Ensembles - Salz- und Pfefferstreuer plus Suppenwürze - parat. Als eine Backpackerin hereinkommt, wird per Plebiszit bestimmt, ob sie bleiben darf: keine Pro-Stimmen, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen, die sprichwörtliche Schweizer »Neutralität« at work. Am Ende darf sie doch bleiben (»Ist einer rausgegangen, kann auch wieder einer reinkommen«) und wird zum Serviermädchen assimiliert.

Ohne eigentliche Handlung, mit viel akrobatischer Choreografie und Slapstick, trefflichen Paraphrasierungen der Reden der unterschiedlichen Stammtisch-Communities - von Bauern bis zu Bankern -, liefert das Stück qua »Anecdotical Evidence« ein konsistentes Stimmungsbild des kleinen Landes zur Jahrtausendwende - obgleich man von den gesprochenen Passagen nur einen Bruchteil versteht, wenn man des Schweizerdeutschen nicht mächtig ist. Das Stück endet mit der Radiodurchsage, dass alle Frauen die Schweiz verlassen hätten, und man die Fenster geschlossen halten und weitere Anweisungen abwarten solle.

Marthaler knüpft an die Konventionen des Heimatabends an und hat deshalb tief in der Kiste des traditionellen Schweizer Liedgutes gewühlt und einige Kleinodien zu Tage gefördert. Als mehrstimmiger Männergesang zu Ländlermusik vorgetragen, bekommen die Stücke etwas derart Abgründig-Idyllisches, dass einem ganz schaurig-warm ums Herz wird.

Überhaupt wird viel gesungen im neuen Schiffbau. Allerdings nicht in jenem Stück, das mit seinem Titel genau diese Erwartung weckt. »Die Nacht singt ihre Lieder« des Norwegers Jon Fosse ist ein melancholisches Sozialdramolett zwischen Tennessee Williams und Aki Kaurismäki. Ein junges Paar ist in der gemeinsamen Wohnung gefangen und man ahnt, dass sie es wohl nicht schaffen, aus dieser Situation herauszukommen. Auch nicht, als sie den Abschied vorbereitet und ihm ihren neuen Lover vorstellt. Am Ende schafft er den Absprung, indem er sich umbringt.

Dem Hamburger Regisseur und Autor Falk Richter, dessen bisherige Stücke »Gott ist ein DJ« und »Peace« doch eher der vordergründigen Tagesaktualität verpflichtet sind, hätte man eine derart behutsame Inszenierung kaum zugetraut. In ihrer Ernsthaftigkeit völlig verschieden von Marthalers »Hotel Angst«, zeigt diese Inszenierung eine weitere Facette des Programms, das man sich in Zürich offensichtlich vorgenommen hat.

Auch in der Shakespeare-Inszenierung »Ein Sommernachtstraum«, die Stefan Pucher, Jungregisseur, DJ und Videokünstler, besorgt hat, wird gesungen - und das nicht zu knapp. Das Stück findet statt im Innenhof des Schiffbaus, den die Hamburger Crew in Anspielung auf den gleichnamigen Sommerhit von Meinhardt Jungblut und natürlich des Zürcher Sommerfeelings wegen kurzerhand in »Sonnendeck« umgetauft hat. Die Musik hat Justus Köhncke von Whirlpool komponiert. Schorsch Kamerun spielt einen einfältigen Schlaufuchs und liefert sich im Trockeneisnebel eine Gesangsschlacht mit Puck alias Josef Ostendorf.

Auch wenn Ostendorf konzediert, Kameruns Part sei »das Beste an Bestie«, was er seit langem gesehen hätte, ist seine Version von »Helter Skelter« doch wohl das eigentliche Highlight des Stücks, sie reicht fast an die chorale Interpretation von Madonnas »Crazy« heran, die er als dicker Andy Warhol in der Hamburger Inszenierung des Rainald Goetz-Stücks »Jeff Koons« gab. Was zu Anfang noch durchaus als Shakespeare kenntlich ist, löst sich im Verlauf zusehends von der Vorlage und macht dem Rock'n'Roll Platz. In die deutschen Texte werden immer wieder englische Originalpassagen gesampelt, und man spürt die Ehrfurcht und den Respekt vor einem Texter, dessen Lyrics auch heute noch einen guten Loop abgeben: »A tale told by an idiot / full of sound and fury / signifying nothing.« Die Verwirrung der Liebespaare löst sich am Ende in der allgemeinen Verwirrung auf, weil niemand mehr weiß, wer was spielt und was was bedeutet.

So hat der verwirrte Zettel das Schlusswort, das einem im Programmheft abgedruckten Gedicht von Felix Reidenbach ähnelt: »Unklar wer da wen liebt / aber klar, dass da jemand jemanden liebt /(...) dass jemand sich an alles erinnert / und dabei nicht an alles denken kann / dass jemand was nicht weiss, was jemand anderes auch nicht weiss / und dass das dann Gefühl heisst / das hat was Trauriges.«

Etwas Trauriges hatte es auch, als die Premiere des »Sommernachtstraums« in den ersten Dauerregen seit langem geriet und die Schauspieler sich auf dem Sonnendeck in ihre völlig durchnässten Schlafsäcke kuschelten. Dem Stück tat das keinen Abbruch, im Gegenteil. Shakespeare ertrank im Showcase und ward als DJ wiedergeboren. Aber da war auch klar: Der Sommer in Zürich ist bis auf weiteres vorbei. Jetzt muss sich erweisen, ob das, was man in Sommerlaune auf dem Sonnendeck zusammenspinnt, auch bei einem Winterpublikum Gnade findet.

»Hotel Angst«. R.: Christoph Marthaler. Mit R. Clamer, W. Hess, U. Biher

»Die Nacht singt ihre Lieder« von Jon Fosse.

R.: Falk Richter.

»Ein Sommernachtstraum« von William Shakespeare. R.: Stefan Pucher. Mit Josef Ostendorf, Schorsch Kamerun.

Schauspielhaus Zürich, 8032 Zürich, Zeltweg 5