Der Komponist Luc Ferrari

En passant

Ein nicht geschriebener Artikel über den Komponisten Luc Ferrari.

Im Radio hörte ich einige Ausschnitte aus Luc Ferraris »Far-West News«, akustische Notate einer Reise quer durch die USA. Ich hörte sie weiter, spann sie fort, während ich in den Wochen danach meinen Geschäften nachging. Nebenbei entwarf ich einen Artikel, in dem die »Far-West News« mit Michel Butors »Mobile« eine hybride Verbindung eingingen, einen Heterozygot bildeten, einen Film aus zwei Filmen ohne Film, der eine musikalisch, der andere literarisch, zwei Reisen durch die USA, zwei road movies, zum Beweis, dass dieses elende Genre doch bemerkenswerte Touristen hervorgebracht hat. Schließlich war der Artikel fertig, geschrieben hatte ich kein Wort.

Ich kannte ja noch immer bloß einige eindrucksvolle Ausschnitte der »Far-West News«; ich erkundigte mich, wo ich den Rest hören könnte und man eröffnete mir, ich müsse bis nach Hilversum laufen, zum dortigen Radio, dort liege alles. Ich bin aber nicht gut zu Fuß.

Zum Trost schaffte ich mir die »Danses organiques« an, ein zufälliges Zusammentreffen zweier junger Frauen, die sich lieben, mit einem Tonbandgerät, das zufällig Luc Ferrari gehört. Und wieder fiel mir die angenehme Stimme des Komponisten auf, der in den »Far-West News« ein angenehmes Englisch spricht, in den »Danses organiques« ein angenehmes Französisch. Er analysiert das Stück, während die Frauen ihre Liebe analysieren und das Stück sich selbst analysiert. Am Ende setzt sich ein Apparat zur Analyse von Seufzern in Gang, wenn auch nicht der von Villiers de l'Isle-Adam, der nur die letzten Seufzer zerlegt.

Nun wollte ich ganz auf diese Stimme setzen, meinen Artikel auf dieser Stimme aufbauen, diese Stimme sagen lassen: »Luc Ferrari wird in Paris geboren, 1929. Er geht über diesen ersten Satz in sich: zunächst einmal 1929. Er hat zahlreiche Autobiographien geschrieben, in welchen er die Daten fälschte. Die Schreiberei macht ihn verrückt; besser, ihm nicht damit zu kommen. Und da er es nicht wagt, sich jünger zu machen, machte er sich älter. Es gibt daher eine Menge falscher Daten, die kursieren, worüber er sich zu jener Zeit amüsierte. Inzwischen amüsiert es ihn sehr viel weniger! Dann geboren in Paris. Er geht in sich: in Paris geboren! Er fragt sich, wer er gewesen wäre, wenn er in dem kleinen Dorf seines Vaters auf Korsika geboren worden wäre. Er fragt sich, wer er gewesen wäre, wenn er in Marseille geboren worden wäre, der Stadt seiner Mutter. Er fragt sich, wer er gewesen wäre, wenn er in Italien geboren worden wäre, dem Land seiner Ahnen. Und auf all das hat er keinerlei Antwort.«

Über diese Sätze ging ich in mich. Ich fragte mich, ob das überhaupt Luc Ferraris Stimme ist? Ich fragte mich, ob sie, wenn es seine Stimme ist, Ferrari-Sätze sagt? Ich fragte mich, ob Ferrari nicht gerade von sich ablenken will, indem er so destruktive Dinge einwirft wie: »Wenn ich arbeite, denke ich nicht«? Also schaffte ich mir noch ein halbes Dutzend Ferrari-Kompositionen an. Als ob sie meine Zweifel nähren wollte, ließ sich die Stimme weit und breit nicht mehr vernehmen. Aber wenn diese Stücke nicht durch diese samtene Stimme ausgezeichnet sind, kann man sie dann ernsthaft für Ferrari-Stücke halten?

Moment mal, »Hétérozygote«, 1963/64, ist das nicht von ihm? Ist das nicht sein Notizblock, den er bekritzelte, während er Filme, meinetwegen über Edgar Varèse oder Cecil Taylor, drehte? Ich blätterte ein wenig und fand unter anderem eine entropische Musik aus auseinanderstrebenden Pfeifentönen und Pianokrümeln, außerdem etwas, das eine Pferdekutsche oder eine Druckmaschine sein könnte, unverständliche Rufe, etwas, das ein abhebendes Flugzeug sein könnte oder das Meer, das sich an Klippen bricht. Eine Sängerin, die Kagel probt. Kagel? Wie komme ich ausgerechnet auf Kagel? Dann auf der rechten Seite ein deutscher Bühnenarbeiter: »Jetzt mal langsam höher! Höher!« Zugleich auf der linken Seite ein deutscher Bühnenarbeiter: »Ein klein bisschen tiefer! Tiefer!« Zum Hohn eine männliche Stimme: »Vous allez comprendre maintenant.« Schließlich eine lustig plaudernde Schafherde, die von einer lustig plaudernden Herde Premierenbesucher umstanden wird: »It's very good. I enjoy coming ... Das ist ein bisschen schwierig, nicht? ... Mais ils sont ... très ... plus ... plus ... satanique, n'est-ce pas? ... Non! ... La maestà! ... L'amour et le roman, et tout ça ... Molto grave ... Ich glaube, dass man, äh, ja ... Maintenant ... Je ne suis pas très musical ...« Auf dem Höhepunkt ein fränkisches Schaf: »Es gibt hier nichts Besond'res. Es werden Aufnahmen gemacht. Sind's bitte so freundlich.«

Ja, und das soll alles von Luc Ferrari sein, während man genauso gut sagen könnte, das sei alles nicht von Ferrari. Wie bei »Strathoven« (1985), wiederum eine zufällige Begegnung zweier Liebender, diesmal Beethoven und Strawinsky, die sich gegenseitig ansymphonieren, um sich schließlich in einem Maschinenrattern zu vermählen.

Aber jetzt hatte ich herausgefunden, wo ich anfangen muss und wie sich alles ganz von selbst auflöst. Sein radikales Werk, sein starting point, sein Ein und Alles, »Presque rien« (1970), eine Montage aus den Geräuschen, die er tage-, ja wochenlang jeweils bei Sonnenaufgang in einem Fischerdorf aufnahm; das muss der Schlüssel sein. Ich eilte in den Schallplattenladen. »Längst ausverkauft. Wo denken Sie hin?« Ich trottete nach Hause, gab mich aber noch nicht geschlagen. Hier, ich hab's, immerhin gibt es noch »Presque rien 2« (1980), dieses Mal ausschließlich in der Abenddämmerung aufgenommen. Ferrari bemerkte selbst dazu, dadurch habe er ausschlafen können; eine echte Weiterentwicklung also. Ich eilte in den Schallplattenladen. »Längst ausverkauft. Wo denken Sie hin?« Und vermutlich lag und liegt der ganze Stoff in Hilversum.

Nun war ich erledigt. Ist es so schwer, einen bescheidenen kleinen Artikel zusammenzuzimmern? Um Zeit zu gewinnen, wählte ich an der Waschmaschine das Neunzig-Grad-mit-Vorwäsche-Programm. Nahezu absichtslos griff ich zu einem Buch, das zufällig (nun ja, wir sind alt genug, nicht an Zufälle zu glauben) da lag, Tomas Schmits »fishing for nets« (Köln/N.Y. 1994). Ich entdeckte den Satz: »in an age when salon daubs, monster sculptures, packaged buildings, satellite follies, psychobombast, dominate the art scene, drawing almost becomes a piece of nature.«

Dazu lief im Hintergrund »Presque rien avec filles« (1989), allegro vivace durchs Stereo flitzende Jagdhunde, sich pünktlich nähernde Schüsse aus den Büchsen der Jäger, rhythmisch vorbeiflatternde Eulen, von ferne Elfengewisper, sodass es sich mir aufdrängte, den Satz einfach umzudrehen: In einer Zeit, da natürliche Aromen, unbehandeltes Obst, authentische Walgesänge, der Anblick eines Bottichs mit Muttererde die Wahrnehmung beherrschen, erhalten bearbeitete Waldgeräusche etwas hochgradig Künstliches. Ich entschloss mich, Schmits gar nicht zu erwähnen, um den Gedanken für mich zu reklamieren.

Und, als ob ich endlich den Dreh gefunden hätte, entdeckte ich auch etwas Passendes in den liner notes zu »Tautologos 3«. David Grubbs schreibt: »Gegen Ende von ðTautologos 3Ð erscheint zu unserer Zufriedenheit mit einem Mal aus dem Nichts eine komplette musikalische Phrase (...). Sie ähnelt dem Schlammschlängler (mudfish) oder welchem Fisch immer, der zuerst aus dem Meer sprang und sich zu Gunsten eines Lebens auf dem Lande weigerte, weiter zu schwimmen. Es ist, als ob dieser Schlammschlängler nicht nur zum ersten Landbewohner geworden wäre, sondern auch seine Lippen geöffnet und den ersten vollständigen Satz geäußert hätte. Was versucht der Schlammschlängler zu sagen? Er sprang einfach aus dem Wasser an Land und sprach den ersten Satz, gerade heraus. Was ist der Inhalt dieses Satzes? Schwer zu sagen, aber haben Sie nicht das prächtige Schillern seiner farbigen Schuppen gesehen? Haben Sie nicht gesehen, wie der Schlammschlängler schimmert?«

Der erste sprechende Fisch, Meer, Schlamm, Sonne, glitzernde Schuppen; und all das erkennt Grubbs in einem Werk, das zwar 1970 nicht nur für elf Instrumentalisten, sondern auch für ein Tonband geschrieben wurde, aber überhaupt keine wiedererkennbare natürliche Landschaft ausbreitet. Das ist es! Der Naturbegriff bei Ferrari! Natur in der Musik! Musique concrète als abstrakte Kunst! Aber dann fiel mir ein, dass ich am Nachmittag einen Zahnarzttermin hatte und am nächsten Morgen noch ein Geburtstagsgeschenk besorgen musste, und ich ließ es lieber ganz bleiben.

Luc Ferrari: »Danses organiques«, Elica; »Acousmatrix 3« (»Petite Symphonie intuitive pour un paysage de printemps«, »Strathoven«, »Presque rien avec filles«, »Hétérozygote«), BVHaast; »Cellule 75« (»Cellule 75«, »Place des Abbesses«), Tzadik; »Interrupteur / Tautologos 3«, Blue Chopsticks

Neue Zeichnungen von Tomas Schmit:
»können menschen denken?« Wiens Laden und Verlag, Linienstr. 158, Berlin, noch bis zum 13. Januar