15 Jahre »Lindenstraße«

Schlechte Zeiten, noch schlechtere Zeiten

Soap plus Autorenfilm und Sozialkritik minus Lifestyle. Seit 15 Jahren wird in der »Lindenstraße« gestritten, gelitten und gestorben.

Was macht eigentlich Klausi Beimer? Lebt Else Kling noch? Ist Anna wieder schwanger, und wieviel wiegt Walze wohl inzwischen?

Die Fragen, die noch vor wenigen Jahren dazu taugten, Menschen, die eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, auf öden Parties ins Gespräch zu bringen, würden heute bestenfalls ein ratloses »Hä?« auslösen. Denn sonntags um 18.40 Uhr schalten nur noch Hardcore-Fans die »Lindenstraße« ein, die Quoten sind mittlerweile derart drastisch gesunken, dass man Teile der Handlung schon in den Osten verlegt hat, um die dortigen Einwohner zum Einschalten zu bringen.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Angeregt von der britischen Soap Opera »Coronation Street«, die seit mehr als 40 Jahren vom Leben der unteren Klassen in Yorkshire erzählt, beschloss der Regisseur Hans W. Geißendörfer, dass die Zeit für eine Dauerserie nun wohl auch im deutschen Fernsehen reif sei. Am 10. Januar 1983 erklärte er den Programmverantwortlichen seine Idee, wies darauf hin, dass sie sofort realisierbar und ziemlich billig sei und stieß auf Skepsis. An einer Serie »über das wahre Leben«, so Geißendörfer, die »unterhält, aber nicht verblödet«, noch dazu konzipiert von jemandem, »der nach neuem deutschem Film aussah«, hatte man kein sonderliches Interesse. Die Quotenrenner zu dieser Zeit waren das »Traumschiff« und »Dallas«, die »Schwarzwaldklinik« und »Praxis Bülowbogen«.

Trotzdem erteilte der WDR Geißendörfer umgehend einen Entwicklungsauftrag für die Serie. Im Sommer 1983 traf sich der Regisseur zum ersten Mal mit der Autorin Barbara Piazza, beide entwarfen zusammen die Charaktere, die in der Lindenstraße wohnen sollten. Dass sie nur deswegen in München liegt, weil der dem Projekt sehr ablehnend gegenüberstehende Bayerische Rundfunk davon seine Zustimmung abhängig machte, ist jedoch nichts weiter als ein Gerücht. »Für mich stand von Anfang an fest, dass ich als Süddeutscher mir diese Geschichten auch nur für Süddeutschland ausdenken kann«, erklärte Geißendörfer.

Nachdem Handlung und Personal im Groben feststanden, machte man sich auf die Suche nach geeigneten Schauspielern. Stars kamen von Vorneherein nicht in Frage, man wollte ganz ohne Sascha Hehn und Gaby Dohm auskommen.

Nun hätte es eigentlich losgehen können, aber die Produktion wäre nicht vom WDR allein zu finanzieren gewesen. Jede einzelne der damals neun ARD-Anstalten musste überzeugt werden, bisher hatte man jedoch nur beim »Tatort« zusammengearbeitet. Geißendörfer arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits auf eigenes Risiko, denn der Etat für die Serienentwicklung war bereits weit überschritten. Nachdem sich die Münchner Bavaria-Studios als zu teuer erwiesen hatte, plante man nun in Köln-Bocklemünd, wo die Lindenstraßen-Kulissen genug Platz haben würden. Im Oktober 1984 schließlich wurde das Projekt von den ARD-Direktoren für ein Jahr bewilligt, 7 500 Mark sollte die Sendeminute kosten dürfen. Das war weniger, als Geißendörfer erwartet hatte, nun musste gestrichen werden. Gedreht werden konnte nur noch an vier statt an fünf Tagen. Die Familie Kling durfte keinen Sohn mit Familie mehr haben, Isolde Panowaks Mann erhielt keine eigene Autowerkstatt.

Trotzdem wäre das Projekt fast gescheitert. Denn der eigentlich geplante Ausstrahlungstermin, 19.30 Uhr, rief wütende Proteste beim Konkurrenzsender ZDF hervor: Bleibe die ARD dabei, so der damalige Intendant des Zweiten, Dieter Stolte, dann fühle man sich nicht mehr an die bisherigen Programmabsprachen gebunden. Das Erste gab nach, verlegte die »Lindenstraße« auf den damals äußerst ungewöhnlichen Zeitpunkt 18.40 Uhr, und Geißendörfer hatte allen Grund, sich Sorgen zu machen. Wegen seiner Serie wurde die Sportschau um 22 Minuten gekürzt, mit dem Wohlwollen der Fußballfans würde er nicht rechnen können.

Im September 1985 begann der erste Dreh. Zum ersten Mal wurde bei einer Serienproduktion mit Video gearbeitet. Und prompt ging alles schief. Das erste Team hatte zuvor nur Fußballspiele aufgenommen. »Die Bild- und Tontechniker hatten zwar eine Ahnung davon, wie man den verschwitzten Litbarski auf dem Weg zur Dusche noch eben in Bild und Ton einfängt, wie man aber einen Familienstreit in der Wohnküche ausleuchtet, konnten sie nicht wissen.«

Nach der Auswechslung des Teams blieben die Probleme jedoch. Der Ton in der Halle war so mies, dass ganz schnell isoliert und umgebaut werden musste, während die Produktion weiterlief. Am 8. Dezember 1985 wurde schließlich die erste Folge ausgestrahlt. Die Kritiken waren vernichtend. »Glückwunsch. An das ZDF«, schrieb etwa die Welt. »Das sollen wir sein? Sind wir so langweilig, so säuerlich-moralisch, so einfältig und lebensmüde? Und selbst wenn wir so wären, müssen wir uns dabei auch noch zuschauen?« fragte die FAZ. »Die Humorlosigkeit in diesem Sauerkraut-Revier nervt«, beschied die Münchener Abendzeitung.

Das Publikum jedoch liebte die »Lindenstraße« auf den ersten Blick. Kein Plot war zu platt, als dass er nicht ausgiebig diskutiert wurde. Sigi, der seine Frau Elfi regelmäßig schlug, kam eben so schlecht an wie Dr. Dressler, der sich ewig vor der Hochzeit mit seiner Sprechstundenhilfe Elisabeth Flöter drückte. Dass Tennisluder Tanja ihrer Mutter Henny den Liebhaber ausspannte und sie damit in den Selbstmord trieb, wurde ihr höchst übel genommen.

Überhaupt wurde viel gestorben in der »Lindenstraße«, wobei die Drehbuchschreiber den Unfalltod eindeutig favorisierten. Stefan Nossek, von Klausi Beimer versehentlich angeschossen, so dass er erblindete, rannte als Erster vor ein Auto, Benni und einige andere erwischte es später beim Bustransfer zur Hochzeit von Mutter Beimer. Philo Benarsch, auf der Suche nach ihrem in Russland vermissten Sohn, erfror dagegen nur beinahe in einem Tiefkühllaster.

Nur wenigen war es dagegen vergönnt, an einer schlichten Krankheit zu sterben. Den Anfang machte Meike, die mit ihren niedlichen Aussprüchen, die direkt aus der »Kindermund«-Spalte des Reader's Digest zu stammen schienen, schon immer extrem genervt hatte. Ihr extended Dahinsiechen fand schließlich am 12. Juli ein Ende, dann war schon Benno dran. Er hatte sich beim Blutspenden mit Aids infiziert. Dass heute die ganze Nation weiß, dass jeder die Krankheit bekommen kann, ist ein eindeutiges Verdienst der »Lindenstraße«. Denn Geißendörfer legte immer Wert darauf, zu gerade diskutierten Themen Stellung zu nehmen. Seien es Homosexualität oder Polizei-Brutalität, sei es die Anti-Atomkraft-Bewegung, die von Benny Beimer mit einer bundesweiten Stromboykott-Aktion unterstützt wurde, seien es Alkoholismus, das Zölibat, Rassismus oder Kriegsdienstverweigerung - die »Lindenstraße« mischte sich immer ein. Und an Wahltagen legte man Wert darauf, die aktuellen Ergebnisse in die Sendung mit einzubauen.

Und man traute sich sogar, Pärchen auseinanderzureißen. Die Ehekrise von Hans und Helga Beimer bewegte die Menschen stärker als heute die Trennung von Babs und Boris Becker. Da kam selbst die schöne charismatische Nina Winter, die vergeblich versuchte, Elisabeth Dressler den Mann abspenstig zu machen, einfach nicht mit. Selbst die Trennung der Klings ging sang- und klanglos unter.

Aus den Schauspielern waren inzwischen jedoch schon richtige Stars geworden, auch wenn sie, erstmals im deutschen Fernsehen, jederzeit auswechselbar sind. Als die Darstellerin der Chris Barnsteg nicht mehr weitermachen wollte, ließ man sie nicht etwa vor ein Auto laufen, sondern ersetzte sie kurzerhand, ohne vorherige Ankündigung, durch eine nicht einmal ähnlich aussehende Frau. Chris wurde ja schließlich noch gebraucht.

»Ist schon merkwürdig, was für Kreaturen alles in so 'nem Haus zusammenwohnen«, erklärte Joschi Benarsch zu Beginn der Serie, aber blöderweise hat man sich daran mittlerweile schon derart gewöhnt, dass man kaum noch jemanden findet, der weiß, wie es den Beimers, Flöters, Sarikakis und Grieses in den letzten Jahren ergangen ist. Auch die Auswechslung des ursprünglichen Drehbuchschreiber-Teams scheint da nicht viel geholfen zu haben. Helga Beimer soll einen Enkel haben, Else Kling mittlerweile verwitwet sein und Klausi lange Haare haben. Iffi Zenker hat wohl was mit einem Puppenspieler aus dem Osten, der sie jedoch betrügt, Walze ist schon seit längerer Zeit ziemlich schlank und trotzdem schlecht drauf. Anna Beimer, die beim zweiten Kind noch sensationelle zwölf Monate schwanger war, ist derzeit wohl nicht guter Hoffnung, war es aber vor einem halben Jahr oder so noch. Und dem Taxifahrer Andy Zenker ist zwischenzeitlich Jesus erschienen. So what?

Auf die finale »Lindenstraßen«-Frage wird es allerdings wohl niemals eine zufriedenstellende Antwort geben: Warum dürfen Ausländer immer nur Ausländer lieben? Die einzige Ausnahme von dieser Regel war Beate Flöter, die ganz zu Anfang Vassily Sarikakis heiratete, aber richtig glücklich sind die beiden nicht geworden.