Deutschland rehabilitiert Sebnitz

Wende! Gewonnen!

Spenden Sie für das sächsische Sebnitz. Denn es hat schrecklich gelitten. Und auch die Düsseldorfer Neonazis brauchen Trost.

Nun geht es an den Wiederaufbau. Der Landkreis Sächsische Schweiz, der Bundesverband Mittelständische Wirtschaft und die sächsische Staatsregierung wollen mithelfen. In Sebnitz. Denn die Stadt wurde zerstört. »Hingerichtet«, wie Ministerpräsident Kurt Biedenkopf meint.

Landrat Michael Geisler (CDU) eröffnete bereits ein Spendenkonto, um »den zu Unrecht vorverurteilten Sebnitzern die Hand der tätigen Hilfe zu reichen«. Manfred Janitz vom Bundesverband Mittelständische Wirtschaft forderte von den Banken, »die Unternehmen bei Forderungsausfällen, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben, unbürokratisch zu unterstützen«. Fehlt nur noch, dass Gabi Zimmer (PDS) ein Hilfskonto aufmacht, unter dem Stichwort: »Wir lieben unser Sebnitz.«

Was hat die ostdeutsche Stadt eigentlich heimgesucht in diesem Herbst? »Ein Presseskandal«, wie die junge Welt schreibt, ein »Medien-Gau« nach Meinung des Sebnitzer Bürgermeisters Mike Ruckh. Doch von der Geschichte existieren mehrere Lesarten.

Eine davon geht so: Vor drei Jahren wurde der sechsjährige Joseph Abdulla im Sebnitzer Freibad von Skinheads ertränkt. Zeugen des Geschehens griffen nicht ein. Polizei und Justiz ermittelten schlampig. Nur Josephs Eltern, Renate Kantelberg-Abdulla und ihr Mann Saad, glaubten nicht an einen natürlichen Tod. Sie forschten selber nach, trugen Beweise zusammen und übergaben sie der Bild-Zeitung, die am 23. November eine Headline daraus machte: »Neonazis ertränken Kind.«

Eine andere Lesart lautet: Joseph ist ertrunken. Seine hysterische Mutter versucht, den Sebnitzern den Tod des Jungen anzuhängen und alle Ostdeutschen als Ausländerfeinde zu denunzieren.

Diese Lesart scheint nun von den jüngsten Ereignissen bestätigt zu werden. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen noch einmal aufgenommen hatte, zeigten sich die von Familie Abdulla genannten Zeugen als Wackelkandidaten. Eidesstattliche Erklärungen wurden zurückgenommen, das Alibi eines Verdächtigten erwies sich angeblich als hieb- und stichfest.

Damit nahm der Fall eine Wende. Nicht mehr die Sebnitzer Bürger sahen sich nun der Kritik ausgesetzt, sondern die Familie selbst, der man vorwarf, eine ganze Stadt verunglimpft zu haben. Ihr Haus wurde durchsucht, Anzeige wegen Anstiftung zu falscher Verdächtigung erstattet. Der Kriminologe Christian Pfeiffer aus Niedersachsen, der die Familie beraten hatte, wurde angefeindet. Schon vor einigen Jahren hatte er den Hass vieler Ostdeutscher auf sich gezogen, als er das Phänomen des Neonazismus im Osten mit der Kollektiverziehung in der DDR zu erklären versucht hatte. Inzwischen wird ihm die Befähigung abgesprochen, Justizminister von Niedersachsen zu werden.

Das Ressentiment feiert nach dem Umschwung in Sebnitz fröhliche Urständ. Die »West-Presse« und der »West-Wissenschaftler« werden für den Imageschaden der Stadt verantwortlich gemacht. Die Stimmung wird vom Ministerpräsidenten, vom Innenminister und vom Bürgermeister befördert. Es kommt zu Morddrohungen gegen die Familie, kaum einer in der Stadt glaubt, dass sie weiter in Sebnitz wohnen kann.

Das berechtigte Verlangen der Familie, den Mordgerüchten nachzugehen, wird ausgeblendet. Der rätselhafte Tod des Jungen spielt in den Medien inzwischen kaum noch eine Rolle. Widersprüche in den jüngsten Untersuchungen werden ignoriert. Warum kursierte das Gerücht, Joseph sei ertränkt worden? Warum widerrufen plötzlich alle Zeugen ihre eidesstattlichen Erklärungen?

Die vermeintlichen (ost-)deutschen Opfer gehen vor. »Ist Rufmord an einer Stadt begangen worden?« fragt Werner Pirker in der jungen Welt. »An einer kleinen Stadt in der Sächsischen Schweiz, auf dem Territorium der einverleibten DDR? Das ist ein unwiderlegbarer Tatbestand.« Er unterschlägt, dass sich die Sebnitzer selbst um ihren Ruf verdient gemacht haben: z.B. auf der Homepage ihrer Stadt, die mit Nazi-Sprüchen nur so gespickt ist. Sebnitz lebt offensichtlich auch ganz gut mit einem NPD-Stadtrat, der bei der letzten Wahl 6,5 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte.

Pirker aber sorgt sich um sein revolutionäres Subjekt, die ostdeutsche Volksgemeinschaft: »Das eigentlich Unfaßbare ist doch, was die Medieneinfalt hier zu suggerieren versuchte: eine Stadt im Osten, die ein Kollektivverbrechen begeht; eine Stadt im Osten, die eine finstere Schicksalsgemeinschaft bildet. Eine Stadt im Osten als Killing field.« Als ob es nicht genügend solcher killing fields gegeben hätte: Hoyerswerda, Dolgenbrodt, Gollwitz, Rostock-Lichtenhagen. Und als ob die Sächsische Schweiz nicht voll wäre von Neonazis. Nur deshalb konnte die Bild-Schlagzeile überhaupt ihre Wirkung entfalten.

Dabei stehen die jeweiligen Orte paradigmatisch für ein je neues Niveau von Rassismus und Antisemitismus. Aber es handelt sich um politische Strukturen, die auch in anderen deutschen Städten vorzufinden sind. Nötig ist eine Kritik an den rassistischen Zuständen überall in Deutschland.

Nach den Ereignissen in Sebnitz sehen sich Leute wie Pirker bestätigt. Wahrscheinlich auch Martin Walser, der bereits in seiner Friedenspreisrede 1998 für das Wegsehen plädierte: »Hoffentlich stimmt's nicht, was uns da so krass gesagt wird (...) Ich kann diese Schmerz erzeugenden Sätze, die ich weder unterstützen noch bestreiten kann, einfach nicht glauben.« Ab heute muss er sie auch nicht mehr glauben.

Der Fall Sebnitz wird dazu dienen, in Zukunft bei rassistischen Übergriffen die Täterschaft von Neonazis in Frage zu stellen. Ein unklarer Fall soll helfen, alle Morde, die geschehen sind oder die geschehen werden, zu vertuschen. Die »Meinungssoldaten« (Walser) werden zum Schweigen gebracht, die gescholtene »West-Presse« eilt zurück in sichere Gefilde. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: »Nichts ist in Ordnung. Mehrfach ist sich in den letzten Jahren (Lübeck, Düsseldorf) angesichts völlig ungeklärter Sachverhalte in den Kommentarabteilungen - rhetorisch feinsinnig - darüber entrüstet worden, dass Rechtsradikale dahinter stecken.« Im Fall Lübeck werden mal schnell die Vorzeichen vertauscht. Vorverurteilt wurde nach dem Brandanschlag auf ein Ausländerwohnheim im Jahre 1996 Safwan Eid, ein Bewohner des Hauses. Die rechten Jugendlichen aus Grevesmühlen, die mehrfach ihre Tatbeteiligung zugegeben haben, wurden noch nicht einmal angeklagt.

Der Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge, zu dem sich in der vorigen Woche ein Palästinenser und ein aus Marokko stammender Deutscher bekannten, scheint ins Bild zu passen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt die Richtung vor: »Doch zeigt gerade dieser Fall, wie irreführend es ist, die Neigung zum Rechtsextremismus ausschließlich in den deutschen Genen zu vermuten und diese Erbkrankheit vor allem im ðrückständigenÐ Osten zu sehen. Das neue Motto lautet: ðAusländer sind nicht immer nur Opfer.Ы

Auch der hessische Ministerpräsident Koch warnt vor einer Überbewertung des Rechtsextremismus, und die Republikaner entlarven Schröders »Aufstand der Anständigen« als »Terror der Gutmenschen«. Die Nazis sind wieder unsere braven Jungs, die zwar dumme Fußballlieder singen, aber ansonsten keiner Fliege was zu Leide tun. Und der Fernsehzuschauer lehnt sich beruhigt zurück, wenn es mal wieder irgendwo brennt. Waren wahrscheinlich sowieso die Ausländer selbst, die gezündelt haben. Der kurze Sommer der Antifa war schneller vorbei, als man es sich träumen ließ.