Türkische Debatte über EU-Beitritt

Geliebter Feind

Die türkische Debatte um einen Beitritt zur EU ist geprägt von alten und von neuen Nationalismen. Gegnern und Befürwortern dient Europa zugleich als Schreckgespenst wie als Utopie.

Die aktuelle Debatte um den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ist stark nationalistisch ideologisiert. Deshalb geht es auch weniger um die wirtschaftlichen Strukturanpassungsmaßnahmen, sondern vor allem um verschiedene Beschreibungen eines Phantoms, das Europa heißt. Während die einen an der Entlarvung der »Intrigen Europas gegen die Türkei« arbeiten, prahlen die anderen in kemalistischer Tradition mit der »genuin europäischen Identität der modernen Türkei«. Beiden Fraktionen dient Europa zugleich als Feindbild und als Utopie.

Der türkische Nationalismus in all seinen Spielarten beabsichtigt spätestens seit dem Ende des kalten Krieges, die Schwellenlandkarriere der Türkei zu beenden und sozial wie ökonomisch den Eintritt in die »erste Welt« zu finden. Auferstanden ist dieses Phantasma zwar schon während des modernisierenden neoliberalen Schubs der achtziger Jahre. Eine Erweiterung erfuhr es jedoch mit der Unabhängigkeit der ehemaligen sowjetischen Staaten Mittelasiens, deren Einwohner in der Türkei als so genannte Turkvölker betrachtet werden. So sprachen türkische Politiker Anfang der neunziger Jahre von der »eurasischen Perspektive« einer türkischen Welt, die von der Adria bis zur Chinesischen Mauer reichen sollte. Das erhoffte Anwachsen der Türkei zur Regionalmacht - als Etappenziel auf dem Weg zur Weltmacht - blieb aber aus, auch wegen der eigenen Nationalismen und politischen Strategien der heutigen mittelasiatischen Republiken und Aserbeidschans.

Anfang vergangenen Jahres setzte die Aussicht auf eine EU-Mitgliedskandidatur den gebremsten Optimismus wieder in Bewegung. Der vermeintliche Sieg des türkischen Staates im so genannten Kurdenkrieg wurde mit dem Argument unterstrichen, dass Europa, welches immer als Unterstützer der kurdischen Befreiungsbewegung galt, sich nun auf die Seite der Türkei stelle. Und mit Genugtuung betonte man, Europa sei wegen ihres »großen Potentials« auf die Türkei angewiesen und nicht umgekehrt.

Die türkischen EU-Gegner argumentieren dagegen, dass eine Integration in die Union die Anfang der neunziger Jahre angestrebte »eurasische Perspektive« unter der Vorherrschaft der Türkei zunichte machen würde. Anhänger dieser Perspektive sehen in den postsowjetischen Republiken Mittelasiens lukrative Märkte und geostrategische Partner.

Pro-eurasische Thinks-Thanks vermuten, Europa wolle die Türkei integrieren, um das »Erwachen« Asiens unter ihrer Führung zu verhindern und sie als Vermittlerin zwischen Europa und Asien beim Erschließen neuer Märkte im Kaukasus und Mittelasien zu gewinnen. Dieser Diskurs ist in national-konservativen Kreisen sowie bei Teilen des Militärs präsent, aber auch in einer linkskemalistischen Strömung, die staatstragende Ideologeme mit einem Linksnationalismus verbindet.

In der linkskemalistischen Lesart verschmelzen die eurasische imperiale Vision und ein antiimperialistischer Missionsgedanke, der auch im ursprünglichen Programm der staatsgründenden kemalistischen Ideologie enthalten war. Ein ambivalentes Verhältnis zum Westen ist auch dem historischen Kemalismus immanent. Getragen von Vorbehalten gegenüber dem imperialistischen Westen, machte er gleichzeitig die säkulare »westliche Kultur und Zivilisation« zum Ziel der Modernisierung. Vertreter des Linkskemalismus, deren Auffassung von der Moderne eurozentristisch geprägt ist, bestehen deshalb darauf, die rechtmäßigen Erben des Antiimperialismus von Mustafa Kemal »Atatürk« zu sein. Die national-konservative Rechte hingegen nimmt eine kulturalistische, anti-westliche Haltung ein.

Eine dritte Strömung bilden die liberalen türkischen Intellektuellen, die sich überaus medienwirksam in Szene setzen. Sie verstehen Europa als eine räumlich-soziale Ordnung, in der die Menschenrechte besser gewährleistet sind als derzeit in der Türkei. Auch linke und linksliberale Milieus sehen einen von der EU verordneten Import »demokratischer Reformen« kurzfristig als einzigen Ausweg.

Tatsächlich ist der Druck aus Europa in verschiedener Hinsicht ein Reformfaktor für die Türkei. Dem türkischen Staat eröffnet sich dadurch eine neue Möglichkeit, repressive Maßnahmen zu legitimieren. Das jüngste Beispiel ist die brutale Offensive der Sicherheitskräfte gegen den Hungerstreik in den Knästen, die mit der Modernisierung des Haftsystems nach westeuropäischem Vorbild erfolgreich gerechtfertigt wurde. Dabei verherrlichte man die Einzelhaft als modernes europäisches Gefängnissystem. Es ist zu erwarten, dass der türkische Machtapparat sich dieses Legitimationsmuster im Rahmen der EU-Integration immer besser anzueignen weiß und den staatlichen Terror zukünftig mit einem kleineren, aber effektiveren Apparat sowie mit geschickterer Konsensproduktion ausüben kann. Denn zur EU-kompatiblen Modernisierung der türkischen Gesellschaft gehören auch die entsprechend angepassten Kontroll- und Disziplinierungstechniken.

Andererseits hat die geforderte Anpassung an die EU-Normen, deren ökonomische Aspekte und Konsequenzen übrigens kaum problematisiert werden, einen alarmisierenden Effekt, wenn sie als politisches Kriterium auf die Tagesordnung kommt. Die Militärs und die faschistoid-chauvinistische Regierungspartei MHP spielen sich als Hüter der nationalen Souveränität auf und proklamieren: »ja zur EU, aber mit der Bewahrung des Nationalstolzes«. Die öffentlich erklärte Sorge über eine »Einmischung des Westens in unsere Angelegenheiten« dient dem nationalistischen Machtblock stets als hervorragendes Alibi zur national-populistischen Mobilisierung. Bis zur altbekannten These von der Rache Europas an den Ottomanen ist es dann nicht mehr weit.

Für die MHP und das nationalkonservative Spektrum stellt die EU mit ihren Anpassungskriterien also ausschließlich einen Faktor zur »Destabilisierung der nationalstaatlichen Souveränität« dar. Die Propaganda zeigt bereits ihre Wirkung, und inzwischen fühlen sich auch liberalere Teile der türkischen Öffentlichkeit von »den Europäern« eingekesselt. So klagt man beispielsweise gerne darüber, dass die Union Ende letzten Jahres unter anderem die Freiheit für die kurdische Sprache in den Medien und eine konföderative Lösung des Zypern-Problems einforderte. Zu regelrechten Wutausbrüchen führte der Beschluss des französischem Parlaments, den Völkermord an den Armeniern als Verbrechen gegen die Menschheit juristisch anzuerkennen. Taxifahrer erklärten, keine Franzosen mehr befördern zu wollen, einige Universitäten strichen Seminare in französischer Sprache aus den Vorlesungsverzeichnissen, französische Straßennamen wurden geändert.

Die nationalistische Empörung verdrängte jegliche Debatte über die türkische Politik gegenüber den Armeniern am Anfang des 20. Jahrhunderts. Stattdessen verweisen die Machtelite und die Medienintelligenz seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Krieg der französischen Armee in Algerien, wobei man allerdings verschweigt, dass die türkische Regierung als Nato-Mitglied in der Uno gegen den algerischen Befreiungskampf votiert hatte.

Auch die eigenen ideologischen Widersprüche bleiben ausgeklammert. Verlangte doch der Kemalismus während der Gründungsphase der modernen Republik in den zwanziger und dreißiger Jahren, die Türkei habe »westlicher als der Westen« zu sein. Gleichzeitig diente die vormoderne Vergangenheit als Begründung für die angeblich ethno-kulturell angeborene Fähigkeit zum Laizismus sowie für die Unfähigkeit zum Rassismus, da die ottomanische politische Kultur eine ðmultikulturelleÐ Herrschaft gewesen sei und deshalb die moderne Nationalstaatenbildung versäumt habe. Heute revitalisiert die nationalistische Intelligenz diesen paradoxen und kontrawestlichen Diskurs.

Die Türkei von Europa zu entkoppeln, ist wegen der labilen wirtschaftlichen Situation des Landes nicht realistisch. Die Strategie der Staatselite scheint momentan darin zu bestehen, die Schwellenposition wirtschaftlich beizubehalten, politisch aber möglichst autark zu handeln. Man will sich nicht endgültig von Europa abwenden, der EU aber nicht substanziell näher kommen. Die Stabilisierung eines krisenhaften Status quo ist für die nationalpopulistische türkische Politik derzeit offenbar die profitabelste Lösung.

Tanil Bora ist Politologe und Mitherausgeber der sozialistischen Kulturzeitschrift Birikim, des Forums der intellektuellen Linken in der Türkei