»Wie wollen wir leben?«

Der Kongress tazzt

»Wie wollen wir leben?« hieß es am vergangenen Wochenende, als die taz ihre LeserInnen, deren Regierung und auch sonst eine Menge Leute zu einem Kongress lud.

Das Schlimmste war schnell vorbei: Bascha Mika eröffnete die »begehbare Ausgabe der taz«, den ersten Kongress der tageszeitung seit ihrer Gründung vor 22 Jahren. »Die taz versteht sich als linke Zeitung, die Selbstbestimmung und Gerechtigkeit als universelle Werte begreift und in ihrer Berichterstattung die gesellschaftlichen Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten aufzeigt, ja, die zum Einmischen und Handeln aufruft.« Aber mit welchen Worten soll man sonst einen Bogen vom »Tunix«-Kongress in die Gegenwart schlagen, von jener Veranstaltung, auf der 1978 die Idee zur Gründung einer linken Tageszeitung entstanden war.

Seitdem hat sich einiges verändert. Die Leserschaft der taz etwa und ihre Stellung in der Gesellschaft. Begriff sich die Zeitung damals als Teil einer linksradikalen Opposition, so steht sie heute im Ruch, ein Regierungsblatt zu sein. Und die Leserschaft engagiert sich nicht mehr im Häuserkampf, sondern betreibt E-Commerce oder Bio-Marketing.

Den neuen Verhältnissen angepasst, lautete das Motto des Kongresses folgerichtig: »Wie wollen wir leben?« Bascha Mika wies Kritik an dem Motto - es sei religiös angehaucht oder naiv - zurück: »Was dieser Frage zugrunde liegt, ist eine Philosophie des Suchens.« Nicht zuletzt nach neuen LeserInnen, darf man vermuten, aber besser als eine enervierende Abo-Kampagne ist ein Kongress allemal.

Das Ambiente stimmte: das Haus am Köllnischen Park in Berlin mit seinem realsozialistischen Charme und das kulturelle Rahmenprogramm mit Lesungen, Stadtführungen, Fotoausstellungen, Parties und Musik. Zudem hatte die taz ihre Beziehungen spielen lassen und für nahezu jedes Podium VertreterInnen der rot-grünen Koalition aufgeboten. Und diesen hatte man zum Teil kompetente KritikerInnen aus der außerparlamentarischen Linken gegenübergesetzt.

Der Sonnabend begann mit dem Thema »Wen wollen wir schlachten?« und einer müde wirkenden Verbraucherschutzministerin Renate Künast, die ankündigte, »alte Agrarprogramme schlachten« zu wollen. Der Bauer Torsten Behncke wollte dagegen lieber gleich »den Bauernverband und seine Kader schlachten« und forderte: »Köpfe müssen rollen.«

Im Anschluss konnte man sich der Frage widmen: »Frieden schaffen nur mit Waffen?« Hier trafen der Kosovokriegsgegner Brigadegeneral a.D. Heinz Loquai und der taz-Korrespondent Erich Rathfelder, der aus seiner Vorliebe für die kosovo-albanische Sache nie einen Hehl gemacht hat, aufeinander. Während Rathfelder über das »Recht auf Heimat« sprach und alles in allem einen ziemlich erbärmlichen Eindruck machte, gab sich Bettina Gaus als Gegnerin der Intervention im Kosovo zu erkennen.

Der ehemalige taz-Chefredakteur Thomas Schmid überraschte zwei Jahre nach dem Krieg noch einmal mit der Behauptung, richtig wäre der Einsatz von Bodentruppen gewesen. Das wurde nur noch von einer Zuhörerin überboten, die meinte, auch in Griechenland müsse man eingreifen, weil dort die albanische Minderheit unterdrückt werde. Schnell raus und einen Kaffee aus der Caféteria holen, bevor auch diese bombardiert wird.

Schon ging's weiter mit dem Thema »Was ist uns Versöhnung wert?« - starring Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen, beschäftigt mit der Frage der Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen), Marianne Birthler (Vorsitzende der so genannten Gauck-Behörde, ebenfalls Bündnis 90/Die Grünen), Karl-Heinz Dellwo (Ex-RAF) und der unter dem klammheimlichen Namen »Mescalero« bekannt gewordene Klaus Hülbrock.

Was sich die Organisatoren wohl gedacht hatten, wer sich mit wem über welche Versöhnung unterhalten sollte? Marianne Birthler jedenfalls sorgte sich darum, dass die Opfer des Kommunismus in Deutschland nicht so viel Aufmerksamkeit bekämen wie die Opfer der »ersten deutschen Diktatur«, womit sie den Nationalsozialismus meinte. Es blieb Karl-Heinz Dellwo überlassen, diese Relativierung der deutschen Vergangenheit zurückzuweisen.

Vom »Mescalero« waren nur esoterisch angehauchte Thesen zu hören wie: »Das Pathos der Unversöhnlichkeit ist das Problem.« Birthler ließ nicht locker und schilderte das Elend der Opfer des Stalinismus in schillernden Farben. Es seien Tausende von Opfern, die allesamt sehr alt seien. Sie kritisierte, wie abfällig über diese Menschen geredet werde: »Wenn das mal den NS-Opfern passiert wäre!« Ja, was dann?

Wären dann wieder »Moralkeulen« von »Meinungssoldaten« (Martin Walser) geschwungen worden? Eine tendenziell antisemitische Äußerung, die eine Bevorzugung jüdischer Opfer suggerierte, ging einigen im Saal doch zu weit. Birthler aber war nicht bereit, sie zurückzunehmen. Stattdessen forderte sie eine Versöhnung von »Antifaschismus und Antikommunismus«. Zu der kam es an diesem Nachmittag glücklicherweise nicht.

Wer die Versöhnungsdebatte halbwegs unversöhnt überstanden hatte, konnte sich in verschiedenen Veranstaltungen der New Economy widmen, der Präimplantationsdiagnostik, der Frage der Legalisierung der Prostitution, oder dem Widerspruch von außerparlamentarischer Bewegung und institutionalisierter Politik nachgehen. Auch dem Widerspruch zwischen Underground und Mainstream spürte eine Veranstaltung nach und der Frage, wie man wirtschaften wolle.

Ein Zuhörer sagte, man solle psychaktive Substanzen zu sich nehmen und das Verhältnis zur Natur bessere sich wie von selbst, ein anderer forderte ein unverkrampftes Verhältnis zur Nation und ein dritter warb für Konsumverweigerung als wirksames Mittel der Politik. Das Ganze bewegte sich irgendwo zwischen Kirchentag und Betriebsfest, Volksbühnenspektakel und Volksuni.

Die eine Hälfte der Zuhörerschaft genoss es sichtlich, die Leute anzuhören, die man in die Regierung gewählt hat, und die andere Hälfte schüttelte fassungslos den Kopf angesichts permanenter grüner Entschuldigungsfloskeln: Man könne doch nicht, und überhaupt, wie man wolle.

Eine eingeladene Referentin konnte auch nicht, wie sie wollte. Die Sprecherin der französischen Sans Papiers, Madjiguène Cissé aus Senegal, hatte keine Einreiseerlaubnis nach Deutschland erhalten. Sie fehlte bei der Veranstaltung zum Thema Globalisierung. Den Veranstaltern gelang es aber, Cissé telefonisch zuzuschalten, und dieses Gespräch offenbarte mehr von der Problematik als so manche Diskussion.

Cissé berichtete aus dem Senegal, dass der Slogan des taz-Kongresses bei ihren Freunden auf Unverständnis gestoßen sei. »Die Frage, wie wollen wir leben, verstehen wir hier nicht. Die meisten denken, sie leben nicht, sie vegetieren nur. Also geben wir die Frage zurück: Leben wir?« Sie forderte das Grundrecht auf freien Verkehr und kritisierte die Abschottung Europas: »Leichen schwimmen im Meer bei Tarifa und Gibraltar.« Cissé redete nicht lange darum herum, was zu tun sei: »Ihr müsst in Europa gegen diese Situation heftig kämpfen.«

Claudia Roth, die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, versprach, alles dafür zu tun, dass Cissé bald einreisen könne. Sie lamentierte, um anschließend feststellen zu müssen, dass man an der Regierung auch nicht alle Macht habe. »Das war schon eine Erfahrung.«

Wie peinlich. Wie wahrhaftig und beschämend zugleich. Aber wenigstens das »wir« im Kongresstitel hatte sich damit als haltlos erwiesen.