Kritik am Polizeieinsatz in Genua

Scajolas Bullenopfer

Die Regierung und die Sicherheitsbehörden in Italien geraten wegen der Ereignisse von Genua in Bedrängnis.

Zwei Wochen nach dem Gipfel in Genua beginnen weiterhin alle Fernsehnachrichten in Italien mit den »fatti di Genova«, und auch die Zeitungen widmen ihnen täglich mehrere Seiten. Nachdem sich der politische Antagonismus in den letzten Jahren weitgehend abgeschliffen zu haben schien und selbst Berlusconis Wahlsieg von seinen Gegnern mit einem Achselzucken registriert worden war, ist auf einmal wieder eine scharfe Konfrontation innerhalb der Gesellschaft zu verzeichnen.

In Bars prügeln sich die Leute vor dem laufenden Fernseher, Nachbarn reden nicht mehr miteinander, in abgelegenen kalabresischen Dörfern verkünden Arbeitslose, wie sie mit den Demonstranten umgesprungen wären. Und wer in den Tagen nach dem Gipfel von einem Unbekannten zu hören bekam, dass »man in Genua ein Spektakel gesehen hat, das eines zivilisierten Landes unwürdig ist«, musste erst einmal mit vorsichtigen Fragen erforschen, auf welcher Seite sein Gesprächspartner die Barbarei entdeckt zu haben glaubte.

Hatte in den ersten Tagen noch ein großer Teil der Öffentlichkeit die Version akzeptiert, eine Horde Barbaren aus aller Herren Länder habe Genua in Brand gesteckt, bis endlich die Polizei eingegriffen habe, sitzen mittlerweile die Regierung und die Sicherheitskräfte auf der Anklagebank. Jetzt geht es nur noch darum, wer das Desaster ausbaden soll.

Die verschiedenen Polizeikorps und -funktionäre sowie die Politiker schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Dabei geht es weniger um den Tod von Carlo Giuliani als um die Angriffe auf die Demonstrationszüge, die Räumung der Diaz-Schule und die Misshandlungen in den Polizeiwachen.

Insgesamt acht gerichtliche Untersuchungen laufen, die Genueser Staatsanwaltschaft hat, nicht ohne interne Spannungen, zahlreiche Polizisten vernommen, die Namen der an den Einsätzen Beteiligten und die Kommandoketten festgestellt und einen Schalter eröffnet, an dem Bildmaterial abgegeben werden kann. Sie spricht unverhohlen von »systematischer Folter« in der Kaserne Bolzaneto, will aber auch erforschen, warum die Polizei nicht rechtzeitig gegen den so genannten Black Block vorgegangen ist.

Der Innenminister Claudio Scajola hat Inspektoren nach Genua gesandt und nach deren Rapport drei Spitzenfunktionäre versetzt: den Polizeipräsidenten von Genua, Francesco Colucci, dessen Stellvertreter, Ansoino Andreassi, und den Leiter der Antiterrorismusabteilung, Arnaldo La Barbera.

Keine Maßnahmen wurden gegen die Verantwortlichen der Carabinieri, die ein Teil der Armee sind, getroffen. Aber der Versuch, alle »Exzesse« auf individuelle Verfehlungen und Koordinationsschwierigkeiten zu schieben, wird weder von den Ordnungskräften und ihren Gewerkschaften noch von der linken Öffentlichkeit akzeptiert.

Besonders reumütig wirkt Scajola jedenfalls nicht, hat er sich doch am vergangenen Samstag in seiner Privatwohnung mit seinem deutschen Kollegen Otto Schily getroffen und dessen Vorschlag begrüßt, eine europäische Polizeitruppe zur Bekämpfung von Aufständen einzurichten.

Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen. Der Misstrauensantrag gegen den Innenminister ist zwar erwartungsgemäß vom Senat abgelehnt worden; aber ein von der Regierung dominierter Parlamentsausschuss soll bis zum September einen Bericht vorlegen. Doch die markigen Worte einiger Vertreter der Opposition können nicht über deren Widersprüche hinwegtäuschen. So versuchen sie, alle Schuld der Alleanza Nazionale und deren Vorsitzendem, dem Vizepremier Gianfranco Fini, zu geben. Sie verweisen darauf, dass er, ebenso wie andere AN-Angeordnete, in der Genueser Kommandozentrale der Carabinieri anwesend war und dass die Postfaschisten über viele Sympathisanten innerhalb der Ordnungskräfte verfügen.

Der Versuch der Mitte-Links-Opposition Ulivo, die Polizeispitzen selbst von Verantwortung freizusprechen, hat ein durchsichtiges Motiv. Sie sind fast alle unter der Ulivo-Regierung eingesetzt worden. Der ehemalige Premier Massimo D'Alema behauptet, die gegenwärtigen Polizeispitzen seien die demokratischsten, die möglich seien, wer sie für faschistisch halte, müsse dann ihre Nachfolger als Nazis bezeichnen.

In der Tat war im März, als der Ulivo noch an der Regierung war, die Polizei in Neapel während eines internationalen Forums zu Informationstechnologien kaum weniger brutal als in Genua gegen Demonstranten vorgegangen.

Immerhin gehen manche Beobachter davon aus, dass sich Fini - der im Parlament anstelle des Premiers Berlusconi den Innenminister verteidigte und der die Opposition der heimlichen Zusammenarbeit mit den gewalttätigen Demonstranten bezichtigte - die Vorfälle in Genua benutzt hat, um sich innerhalb der Regierung als der eigentliche starke Mann durchzusetzen.

Aber abgesehen davon, scheint die rechte Regierung eher ihren niederen Instinkten als einer diabolischen Intelligenz gefolgt zu sein. Jetzt erwägt sie, den für November geplanten Gipfel der Welternährungsorganisation FAO, der jedes Jahr in Rom stattfindet, gegen den aber bereits Demonstrationen angekündigt sind, in ein afrikanisches Land zu verlegen. Der Minister für EU-Angelegenheiten, Rocco Buttiglione, rechtfertigte dies damit, dass Italien bereits »seinen Teil getan« habe und keine weiteren Menschenleben riskieren wolle, auch nicht die von »Bösewichtern«, denn es handele sich dabei doch um »Söhne unseres Volkes«.

Aber in mindestens ebenso großen Schwierigkeiten wie die Regierung befinden sich auch die Linksdemokraten (DS). Bereits vor der Gipfelkonferenz von Genua schieden sie sich in solche, die mitdemonstrieren, diejenigen, die »Verständnis« dafür haben, und diejenigen, die es ostentativ verweigern.

Nun ist die Partei, die im Herbst einen neuen Vorsitzenden wählen muss, erst recht zerstritten. Während ihre besonders »staatstragenden« Vertreter selbst den Misstrauensantrag gegen den Innenminister nur ungern unterstützten, droht ein Teil der Parteibasis wegzulaufen. Nach dem miserablen Wahlergebnis vom 13. Mai forderten viele in der Partei eine noch stärkere Wendung zur Mitte, zur Kirche und zum Markt; jetzt entdecken andere, dass die einzige Chance für die DS, überhaupt wieder eine Rolle in der Gesellschaft zu finden, darin besteht, sich dem gemäßigten Flügel der Globalisierungsgegner als institutionelle Vermittlung anzubieten. Doch das würde sich natürlich, zumindest auf der rhetorischen Ebene, schlecht mit der ständigen Anbiederung an das Kapital vertragen.

Aber auch die meisten Globalisierungsgegner zeigen, dass sie nicht wissen, was sie wollen. Vittorio Agnoletto, der Sprecher des Genua Social Forum, war als Arzt und Gründer der italienischen Anti-Aids-Liga seit Jahren Berater des Sozialministeriums für Drogenfragen. Als der gegenwärtige Sozialminister Roberto Maroni (Lega Nord) unmittelbar nach dem Gipfel Agnolettos Vertrag mit der Begründung kündigte, dieser habe die Regierung kritisiert, wurden flugs Unterschriften gesammelt - als ob ein solcher Rausschmiss nicht eine Ehre sei. Aber schließlich war auch der andere Sprecher der Globalisierungsgegner, Luca Casarini, Berater der Ulivo-Ministerin Livia Turco.

In dieselbe Richtung gehen auch die ständigen Klagen, in Genua seien die Grundrechte außer Kraft gesetzt worden. Der ewige Wahn, Recht und Staat seien ein neutrales oder gar an sich »demokratisches« Konstrukt, wird in solchen Konfrontationen oft sogar noch verstärkt.

Dass das »Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei« beeinträchtigt wurde, ist in Wirklichkeit als einer der positiven Aspekte zu werten. Im Grunde war Genua auch eine Art Festival der Naivität. Naiv war das Genua Social Forum, das glaubte, die Regierung werde ihm goldene Brücken bauen, und das nachher die Polizei belastende Aufnahmen in seinem eigenen Pressezentrum unterbrachte, wo sie beschlagnahmt wurden, sodass sie bis heute verschwunden sind.

Naiv war die Regierung, die glaubte, die Öffentlichkeit werde ihre Untaten schnell vergessen, naiv waren die Pazifisten, die mit erhobenen Händen demonstrierten und auf die Verfassung pochten, naiv waren die Randalierer, die glaubten, man komme dem Kapital mit ein paar eingeworfenen Fensterscheiben bei. Und leider waren auch diejenigen naiv, die meinten, die Carabinieri würden sich mit Schüssen in die Luft verteidigen.