Mehr Milizen als Minister

Israels Premier Sharon sucht Wege aus der Sackgasse, während der Palästinenserpräsident Arafat mit den Islamisten über eine Koaliton verhandelt.

Ich hörte eine gewaltige Explosion, und ich wusste, dass etwas Furchtbares passiert war.« Der Augenzeuge Benny Peretz täuschte sich nicht. Ein palästinensischer Selbstmordattentäter hatte sich am vergangenen Donnerstag zur Mittagszeit in einer Pizzeria im Zentrum West-Jerusalems in die Luft gesprengt und dabei mindestens 16 Menschen mit in den Tod gerissen. Unter den Opfern waren Israelis und Touristen, Männer, Frauen und Kinder. Über 130 Menschen wurden verletzt, viele davon schwer.

Der Mörder, der 23jährige Izzadin Masri, stammte aus der palästinensischen Stadt Jenin und handelte im Auftrag der islamistischen Hamas. Damit hat die fundamentalistische Organisation seit Mai allein mit den drei größten Anschlägen in Netanya, Tel Aviv und Jerusalem über 40 Tote zu verantworten. In den vergangenen Wochen gab es fast täglich kleinere und größere Anschläge. Teils konnten sie von israelischen Sicherheitskräften verhindert werden, teils kamen die Terroristen bei der vorzeitigen Explosion ihrer Sprengsätze ums Leben. Oft waren die Bombenleger und Heckenschützen aber auch erfolgreich, allerdings erregten sie außerhalb Israels kaum Aufmerksamkeit, weil sie »nur« ein oder zwei Israelis getötet hatten oder ihre Opfer »bloß« jüdische Siedler waren.

Nach dem bislang verheerendsten Anschlag, bei dem am 1. Juni in einer Diskothek in Tel Aviv 22 Menschen starben, hatte sich der Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Yassir Arafat zu einem Waffenstillstand bereit erklärt. Hinterher brüstete sich der deutsche Außenminister Joseph Fischer, Arafats Entscheidung sei auf seinen Einfluss zurückzuführen, er habe zusammen mit anderen »eine schlimme Tragödie verhindert« - eine Tragödie, »die in Wahrheit doch gerade stattgefunden hatte« (Ralf Schröder in konkret, 6/01). Trotz eines formalen Waffenstillstandes unternahmen die Palästinenser nach israelischen Angaben seit dem 1. Juni über 1 200 Angriffe, 54 Zivilisten und sieben israelische Soldaten wurden dabei getötet. Nach der jüngsten Tragödie erklärte Fischer, er »appelliere an alle Beteiligten«, die Chance einer »friedlichen Lösung des Konflikts« nicht zu verspielen. Er plane noch für diesen Monat eine Reise in den Nahen Osten.

Fischer steht mit solchen einseitig-beidseitigen Appellen nicht allein. Selbst in den USA wurde die israelische Reaktion auf den Jerusalemer Anschlag zuweilen schärfer kritisiert als der Anschlag selbst. Dabei war diese Reaktion eher zurückhaltend. Das Polizeihauptquartier der Westbank in Ramallah wurde aus der Luft zerstört. Verletzt wurde niemand, denn die Führung der Autonomiebehörde wusste, was passieren würde und hatte die entsprechenden Gebäude bereits kurz nach der Bombenexplosion in Jerusalem geräumt.

Überraschender für die Palästinenser dürfte der damit einhergehende politische Schlag gewesen sein. Auf Anordnung der israelischen Regierung wurden insgesamt zehn palästinensische Gebäude in Ost-Jerusalem und im angrenzenden Abu Dis geschlossen. An prominentester Stelle stand dabei das Jerusalemer Orienthaus. Es diente als eine Art palästinensisches Außenministerium und symbolisierte zugleich den Anspruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates. In dem Dorf Abu Dis, in Sichtweite des Jerusalemer Tempelberges, wurden die Hauptquartiere mehrerer Geheim- und Sicherheitsdienste der PA besetzt. Der Gebäudekomplex, der erst kürzlich fertiggestellt worden war, sollte später einmal das Parlament des Staates Palästina beherbergen. Der Bezirk steht formal bis heute unter israelischer Sicherheitskontrolle. Sein Status ist, genauso wie die Legitimität der außenpolitischen Aktivitäten im Orienthaus, zwischen Israel und der PA heftig umstritten.

Offenbar versucht Israels Premier Ariel Sharon, entgegen den Plänen des rechtsextremen Regierungsflügels, führende palästinensische Politiker direkt ins Visier zu nehmen, den Fokus von der militärischen Vergeltung auf politische Maßnahmen zu verschieben. Sharon befindet sich, wie es die israelische Tageszeitung Jerusalem Post formulierte, in einer »strategischen Sackgasse«. Er weiß, dass weder eine Rückkehr an den Verhandlungstisch, wie sie beispielsweise Außenminister Shimon Peres fordert, noch die von rechten Kreisen geforderte völlige Zerstörung der PA-Infrastruktur die palästinensischen Angriffe beenden würden. Die schnelle Beendigung dieser Angriffe aber war es, wofür Sharon gewählt worden war. So wächst in der israelischen Öffentlichkeit die Unzufriedenheit mit der derzeitigen Regierung.

Hinzu kommt, dass die Palästinenser in der Weltöffentlichkeit deutlich an Sympathie gewonnen haben. Nur so lässt sich erklären, wie dreist führende Repräsentanten der PA sich in einem Satz von dem Bombenanschlag in Jerusalem distanzierten und ihn gleichzeitig rechtfertigten, indem sie Sharon die Schuld daran zuschoben. Ganz Israel wird mit Sharon identifiziert und steht nun weltweit als Aggressor da. Bei seinen Auslandsreisen musste er sich zum Teil scharfe Kritik an der israelischen Politik anhören. In Belgien läuft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der von christlichen Milizen im libanesischen Bürgerkrieg begangenen Massaker von Sabra und Shatilla, und in Dänemark diskutiert die Öffentlichkeit ernsthaft, ob man nicht den neuen israelischen Botschafter bei seiner Einreise festnehmen solle. Als ehemaliges Mitglied des Geheimdienstes habe er an Folterungen teilgenommen.

Sharon kann sich inzwischen kaum noch darauf verlassen, dass die USA die Einsetzung einer internationalen Beobachtergruppe ablehnen, Arafats wichtigstes diplomatisches Etappenziel. Das israelische Misstrauen ist nicht unbegründet. Erst kürzlich berichteten israelische Medien unter Berufung auf Armeekreise, dass eine in Hebron bereits bestehende halboffizielle Beobachtergruppe unter der Koordination Norwegens von ihr gesammeltes Material, darunter Fotos und Namenslisten jüdischer Bewohner Hebrons, an palästinensische Tanzim-Milizen weitergegeben habe. Vertreter der Gruppe dementierten die Vorwürfe.

Israels Botschafter in Berlin, Shimon Stein, beantwortete am vergangenen Freitag die Frage nach internationalen Beobachtern mit der Gegenfrage: »Hätten sie das jüngste Selbstmordattentat verhindern können?«

Der verlogenste Aspekt der »Distanzierungen« aus Kreisen der PA wurde in der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen. In der letzten Woche verdichteten sich die Hinweise aus der Umgebung Yassir Arafats, dass er bereits konkrete Pläne für eine Regierungsbeteiligung der Hamas und des Jihad habe. Just für den Tag des blutigen Jerusalemer Anschlags war ein entsprechendes Vorbereitungstreffen angesetzt. Arafat bemüht sich offenbar, seine schwindende Machtbasis wieder auszuweiten. Denn im Gegensatz zu seinen internationalen Erfolgen war die PA »auf den Straßen« in der letzten Woche »die große Verliererin«, wie es Matt Rees, der Korrespondent des US-amerikanischen Time Magazine formulierte.

Immer mehr Palästinenser, auch aus den säkularen Mittelschichten, laufen zur Hamas über, weil sie der PA eine Mitschuld an ihrer schlechten Lage geben. Die vielen inzwischen entstandenen Milizen, auch die nicht islamistischen, sind von Arafat kaum noch zu kontrollieren. Manchmal bekämpfen sie sich sogar gegenseitig, in Nablus wurden bei einer Schießerei zwischen rivalisierenden Fatah-Gruppen zwei Kinder getötet. So hat Matt Rees schon einen »Hauch von Libanon« ausgemacht und meint damit die frühen siebziger Jahre, als der Zerfall der libanesischen Zentralgewalt in diverse konfessionelle und säkulare Milizen begann, der in einen fünfzehn Jahre andauernden Bürgerkrieg mündete.

Die angestrebte große Koalition auf palästinensischer Seite scheint vorerst nicht zustande zu kommen. Marwan Barghouti, der Führer der Tanzim-Milizen, hat einen Generalstreik angekündigt, während Arafat in die politische Offensive gehen will. Der Hamas-Aktivist Jamal Tawil aus Ramallah erklärte der Washington Post, die Islamisten hätten kein Interesse an einer Regierungsbeteiligung. »Uns geht es nicht um die Übernahme von Kabinettsposten«.