50 Jahre Reader's Digest

Wir sind okay

Reader's Digest ist seit 50 Jahren für die guten Nachrichten auf dieser Welt zuständig. Jetzt soll es noch besser werden.

Wenn man in Westfalen aufgewachsen ist und dem Kleinbürgertum entstammt, dann hat man einen eigentümlichen Begriff von »Buch« gelernt. Man lebte in einer Welt aus Prilblumen und Tupperware. Man sitzt am Tisch, liest in der neusten Ausgabe von Micky Maus, und die Eltern sagen: »Leg doch mal das Buch weg.« Man steht im Lebensmittelladen, und ein alter Mann hält den »Landser« hoch und fragt: »Was kostet das Buch?« Natürlich waren auch die Quick, der Gong oder die HörZu ein »Buch« - zumindest wenn sie störten. Diese Bücher allerdings wurden weggeworfen, während die anderen Bücher, Anne Golons »Angelique und die Versuchung« oder »Das Große Bertelsmann Volkslexikon«, immer säuberlich ins rustikale Bücherregal zurückgestellt wurden. So weit, so verwirrend.

Dann gab es noch ein merkwürdiges Mischding zwischen »Buch« und Buch, Reader's Digest. Das waren tatsächlich Bücher, Taschenbücher, schlecht aus verhältnismäßig billigem Papier gebunden, aber gebunden, und deshalb gut ins Regal zu stellen. Viele unserer Nachbarn hatten dann auch einen sympathischen halben Meter Reader's Digest im Regal der guten Stube stehen. Dazu gab es dann noch die richtigen, dicken Reader's Digest-Bücher, manchmal waren sie sogar in Kunstleder gebunden, in denen ein paar brachial gekürzte Romane zu finden waren.

Inzwischen ist man auch im bäuerlichen Westfalen etwas feiner geworden. Jetzt findet man Bücher richtig gut, sie machen Kultur aus, und deshalb werden begeistert Werke über die heilende Wirkung von Olivenöl, Biografien von Joschka Fischer oder sogar Hochkultur wie »Das Parfüm« und »Die Firma« in den Rustikalschrank gestellt. Reader's Digest aber stellt man sich nicht mehr so einfach ins Regal. Es gibt jetzt neue Bildungsmöglichkeiten.

Dessen ungeachtet gibt es Reader's Digest noch immer und hat in Deutschland und Österreich nach Verlagsangaben sogar eine Auflagenhöhe von 1,1 Millionen Exemplaren. Allerdings fühlte man sich wohl in den letzten Jahren selbst ein wenig überflüssig. Im vergangenen Monat nun wurde die Zeitschrift relauncht. Seither macht sie deutlicher auf Magazin, das Cover wurde ganz sanft aufgepeppt, und die Gestaltung orientiert sich jetzt bereits vorsichtig an den Layout-Trends der späten achtziger Jahre. Testpersonen jedenfalls befanden das Layout für »zeitgemäß«, »seriös« und »frisch«, lässt der Verlag wissen.

Um wieder attraktiv zu werden, will die deutsche Ausgabe von Reader's Digest auch ihre »Zukunftsfähigkeit als führendes Medium« unter Beweis stellen. Man wird härter bzw. seriöser. Chefredakteur Andreas Scharf erklärt dazu: »Wir nehmen die Herausforderung an, Anwalt der wachsenden und lebenserfahrenen 45-plus-Generation zu sein.« Da sich diese Zielgruppe nicht mit Gartentipps und Entschlackungskuren abspeisen lässt, muss sich auch der Inhalt von Reader's Digest wandeln.

Allerdings vorsichtig. Stand die seit 1922 in den USA und seit 1948 in Deutschland erscheinende »beliebteste Monatszeitschrift der Welt« bisher vor allem als Synonym für das große Bemühen ums Allgemeinwissen, so wird das selbstverständlich beibehalten. Artikel aus verschiedenen internationalen Zeitschriften werden hier noch einmal gedruckt - leicht gekürzt oder überarbeitet-, dazu gibt es Interviews, die auf diesem Zeitschriftensektor unvermeidliche Rubrik »Lachen ist gesund«, die Kolumne »Angelika«, die von einer feschen Mittfünfzigerin präsentiert wird, und bereits seit fünfzig Jahren Kochrezepte und Gesundheitstipps mit entsprechenden Produktempfehlungen vermengt.

Schließlich ist ein Highlight die lustige Rubrik »Bereichern Sie Ihren Wortschatz«, in der bis zu 20 Wörter aus einem gewissen Bereich (»scheinen ins Pflanzenreich zu führen«, »interessante Begriffe aus dem Schweizerischen Sprachraum« oder »fielen uns in den 'Erinnerungen und Gedanken' des Schriftstellers und Historikers Golo Mann auf«) im Multiple Choice-Test den richtigen Bedeutungen zugeordnet werden müssen. Je nach Trefferquote werden Noten verteilt.

Reader's Digest ist noch immer darum bemüht, den Kleinbürgern und der Arbeiterklasse »gutes Wissen« zu vermitteln. Dazu druckt man Lebensberatung mit Reportagen, erschütternden Geschichten und Schmunzelstories, auf dass sich eine bunte, unterhaltsame Mischung ergibt. Man will die »gute Nachricht« bringen, sagt Andreas Scharf.

Doch das reicht nicht. Wie viele andere Zeitschriften, die diese Leserschaft bedienen, ist Reader's Digest in eine Krise geraten. Denn die Alten wollen jung, mobil, gegenwärtig sowie überhaupt aktiv sein, sie lassen sich nicht mehr mit einem sanften Blick auf die Welt vertrösten. In einer Informationsgesellschaft ist Allgemeinwissen nicht mehr alles. Es geht um Statistiken und Meinung. Daher ist Reader's Digest genau wie die Neue Revue oder die Bunte gezwungen, das Repertoire mittels Politik, oder dem, was man dafür hält, zu erweitern.

Entsprechend werden die Interviews im Digest heute härter geführt. Karlheinz Böhm, Nina Hoss oder Senta Berger müssen nicht länger nur Schönes und Launiges aus ihrem Beruf berichten, sondern sich auch zu Fragen des Umweltschutzes oder der Nation bekennen. Und so bekannte Senta Berger im Mai, sie habe ein »noch immer gestörtes Verhältnis zu Deutschland«. »Wenn ich in Deutschland eine Fahne im Vorgarten sehe, sage ich sofort: Wer wohnt hier? Was will er mit der Fahne?« fragte sie sich und die Digest-Leserinnen und Leser.

Eine Frage, die auch Reader's Digest nicht ruhen ließ. In der Juli-Ausgabe fragte man: »Wer sind die Deutschen?« Und das Meinungsforschungsinstitut Emnid kam zu einer für Werttradionalisten beruhigenden Botschaft: Der Nationalstolz ist vorhanden (67 Prozent), und eine breite Mehrheit befürchtet keinen Identitätsverlust durch Ausländer.

Allerdings, so erklärten 58 Prozent der Befragten, ärgere es sie, wenn Ausländer kein Deutsch sprechen. Prima sei es, so Alfred Grosser in seinem Kommentar, wenn in Deutschland kein ungebrochenes Nationalgefühl vorherrsche. Frankreich und Großbritannien könnten von den Deutschen lernen. Denn Deutschland hatte Glück: »Deutschland ist aus der Ablehnung des Nationalsozialismus und des Kommunismus entstanden. Also nicht die Nation, sondern die politische Idee der Freiheit war entscheidend.«

Wer mag, der verstehe diese merkwürdigen Sätze. Und sie werden verstanden. Nation ja, Nation nein, Hauptsache, alles super hier. Auch Cem Özdemir, Fritz Kuhn, Renate Hildebrandt und Edmund Stoiber wurden befragt und bekannten sich in dieser Ausgabe auf ihre Art zu Deutschland. Senta Berger steht ziemlich allein da.

Doch Gottseidank ist sie (»noch immer«) eine schöne Frau und darf die kritische 45-plus-Generation repräsentieren. Und man nimmt ihre Kritik auch irgendwie ernst. Gleichzeitig zur Normalitätsfeststellung - das ist im Reader's Digest kein Widerspruch zu den oben zitierten Statistiken und Auswertungen - startet die Initiative »Miteinander, Füreinander«, mit der die Redaktion ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit setzen will.

Warum man das, wenn in Deutschland alles okay ist, machen muss, bleibt unklar. Wie so vieles im Heft. Aber alles steht nebeneinander. Das ist das Wesen des Pluralismus. Und man muss sich auch weiterhin keine Sorgen machen, dass man in diesem »Buch« irgendetwas Neues finden würde.