Der Schriftsteller Wladimir Kaminer über das Leben in Deutschland

»Der Sozialismus beißt nicht«

Eigentlich war es ein Zufall, der Wladimir Kaminer in Berlin landen ließ: Im Sommer 1990 brauchte man kein Visum, um als russischer Jude in Ostberlin einreisen zu können, und die Zugfahrkarte Moskau-Berlin war billig. Kaminer blieb in Berlin hängen. Er besetzte eine Wohnung, holte seine Familie nach, arbeitete in diversen Jobs, bis ihn der Zufall zu einem deutschsprachigen Schriftsteller machte. Mit seinem Buch »Russendisko« wurde er berühmt. Mittlerweile hat er drei Bücher und zwei Literatur-CDs veröffentlicht. Seine skurrilen und tragikomischen Stories erscheinen in fast allen Tageszeitungen.

Sie sind Jude, stammen aus Moskau, leben seit über zehn Jahren in Berlin und haben einen Roman über ihre Jugend in der Sowjetunion geschrieben. Nach der Lektüre von »Militärmusik« könnte man meinen, das Leben im Sozialismus war ein einziger großer Spaß!

Weder ist das Leben im Kommunismus noch im Kapitalismus ein einziger großer Spaß. Natürlich hat es auch traurige Seiten. Der Sozialismus hat das Leben der Menschen in der Sowjetunion eigentlich nur indirekt beeinflusst. Der Kapitalismus mit seinem Zwang zum ständigen Konsum ist da viel eindringlicher. Durch den wirtschaftlichen Druck, dem hier jeder ausgesetzt ist, kommt der Staat bzw. die Ideologie in jeden Haushalt und guckt aus jeder Einkaufstasche heraus. Bei uns aber waren Staat, Politik und Kirche vom Privatleben getrennt. Wenn man den Sozialismus nicht gerade beißt, dann beißt er auch nicht zurück. Das existierte völlig getrennt: Die Kommunisten irgendwo im Fernsehen, die Menschen auf der Straße und in ihren Wohnungen.

In Russland herrscht auch heute noch eine Scheinaktivität - alle sind beschäftigt, ohne dass es je zu Ergebnissen kommt. Hängt das mit der Mentalität oder dem System zusammen?

Das liegt am Klima. Keine Macht der Welt könnte das Wetter verändern. Aber trotzdem passiert in Russland etwas. Jetzt haben sie zum Beispiel eine eigene Ausgabe von »Big Brother« gemacht: »Unterm Glas«. Dort sitzen drei Jungs und drei Mädels aus der Provinz. Der große Preis ist eine Wohnung in Moskau. Die haben gesagt, auf dem Klo und unter der Dusche werden keine Kameras installiert. Aber gerade die sind am wichtigsten. Ein Mädchen strengt sich immer total an, wenn sie auf dem Klo sitzt und sieht, wenn sich die Kamera anschaltet. Das ganze Volk vor dem Fernseher strengt sich automatisch mit an. Der eine Junge war unter der Dusche und hatte eine Erektion. Jetzt ist er von den Zuschauern abgewählt worden und hat geweint. Er behauptete: »Ich hatte keine Erektion.« Aber die Fernsehzuschauer antworteten: »Doch, hattest du, Sascha. Haben wir alle gesehen!« Das geht volle Pulle los. Die Ersten werden die Helden sein.

Ist das Leben in Deutschland für Sie eigentlich genauso verrückt wie damals in Russland?

Das Leben in Deutschland ist genauso spannend wie überall sonst. Das ist eine Frage der persönlichen Einschätzung. Wie heißt es so schön: Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Gerade ist mein neues Buch herausgekommen: »Schönhauser Allee«. Wenn man das liest, meint man, die Schönhauser Allee in Berlin wäre die verrückteste Straße der Welt. Ich lebe dort seit einigen Jahren und beobachte durch mein Fenster, was alles so passiert. Das ist praktisch wie die »Lindenstraße«, nur viel hektischer. Auf jeder Straße wartet doch ein Abenteuer. Man muss nur ein Auge für die Außenwelt haben. Die Schönhauser Allee ist eine Welt für sich. In meinen Geschichten geht es um ganz alltägliche Sachen: Die Geschäfte, die jeden Morgen öffnen und abends wieder schließen. Manche gehen ein und es entstehen neue. Ich schreibe über die Leute, die da rumlaufen, über die Penner, die Vietnamesen, über alle.

Was haben Sie im Laufe der Jahre von der deutschen Mentalität übernommen?

Das kann man nur schwer sagen, weil ich die Distanz zu diesem Land ein bisschen verloren habe. Durch den Erfolg meines ersten Buches »Russendisko« habe ich die Möglichkeit bekommen, dieses Land auf Kosten sämtlicher Buchläden kennen zu lernen. Nachdem ich über 100 deutsche Orte besucht hatte, konnte ich feststellen: Jede Kleinstadt birgt Überraschungen. Meine ersten elf Jahre habe ich ausschließlich in Berlin am Prenzlauer Berg verbracht und hatte deshalb gar keine Ahnung, was typisch für Deutschland ist. Nach jeder Reise schreibe ich nun neue Geschichten über Städte, die wirklich keine Sau kennt. Zum Beispiel Waldbrühl. Das sind verlorene Ecken, die viel Stoff für neue Geschichten bieten. Irgendwann wird das bestimmt mal ein Buch werden, ein deutsches Dschungelbuch.

Welche Erkenntnisse haben Sie als Großstädter über die Menschen in der deutschen Provinz gewonnen?

Ich dachte immer, da leben Leute, die dort nicht wegziehen können, weil sie Angst haben. Inzwischen weiß ich, dass die Menschen freiwillig in Waldbrühl oder Weikersheim leben und sogar Spaß daran haben. Das ist auch ein schönes Leben. Letztens war ich in Sinsheim. Ich als perfekter Deutschland-Wanderer traf auf eine perfekte deutsche Stadt. Vor dem Bahnhof ein Flüsschen, wie es sich gehört. Davor die Bahnhofstraße. Ich dachte, irgendwann wird diese Bahnhofstraße von der Hauptstraße gekreuzt, sonst ist es keine perfekte deutsche Stadt. Das war dann auch der Fall. Rechts der Marktplatz, links der Kirchplatz, dazwischen die Kreissparkasse und alle lebenswichtigen Einrichtungen: Drogerie, Volkshochschule, Hotel, Restaurant. Dann schloss ich Wetten ab mit mir selbst: Wie viele Jugendliche sitzen auf der Treppe vor dem Rathaus? Ich sagte: vier. Und es waren tatsächlich vier! Eine unglaubliche Reise.

Wie wird man als Russe eigentlich deutschsprachiger Schriftsteller?

Vor genau drei Jahren bat mich ein taz-Redakteur um eine Geschichte. Thema egal. Übrigens eine sehr tolle Einstellung! Schreib doch einfach darüber, wie Russen Weihnachten feiern, sagte der Mann. Ich antwortete: Wir Russen feiern aber gar nicht Weihnachten! Er: Ist doch egal. Schreib einfach! Also schrieb ich eine Geschichte darüber, wie Russen Weihnachten feiern. In Russland kommt Weihnachten erst nach Silvester. Früher dachte ich immer, in Deutschland wird an Weihnachten gebetet und Kuchen gegessen. Bis wir einmal in Berlin am Heiligen Abend die Russendisko veranstaltet haben: Wildes Tanzen in die Heilige Nacht! Der Laden war voll und mehrere Tische sind durch die Gegend geflogen - so feiern die Deutschen also Weihnachten!

Und wie wird in Russland Silvester gefeiert?

Unterschiedlich. Kommt darauf an, wie viel Alkohol man vertragen kann. Mein Vater war am 31. Dezember meistens schon um halb eins sturztrunken und fiel ins Bett. Andere ziehen die Party bis zum 7. Januar durch. Nach dem alten russischen Kalender beginnt das neue Jahr nämlich erst am 7. Januar. Man kann praktisch acht Tage hintereinander saufen. Die Russen haben eine Vorliebe für durchgehende Feste. Der 1. Mai wird zum Beispiel am 1., 2. und 3. Mai gefeiert, dann geht es weiter am 7., 8. und 9., dem Tag des Sieges. Dazwischen geht aber keiner zur Arbeit.

Wie kann man das durchhalten?

Man gewöhnt sich an alles. Der Unabhängigkeitstag wurde extra an einen anderen Feiertag geknüpft, damit die Russen nicht zu kurz kommen. Wenn man an Silvester in Moskau auf der Straße eine ganze Flasche Wodka trinkt, ist man schon nach 20 Minuten wieder nüchtern. Minus 20 Grad - das ist eigentlich nicht schlimm, sogar sehr schön. Das hat etwas mit der unterschiedlichen Luftfeuchtigkeit zu tun.