Gedenken im globalen Zeitalter

Die Globalisierung des Erinnerns

Die Internationalisierung politischer Diskurse stellt die Beschäftigung mit dem Holocaust vor neue Herausforderungen. Über die Zukunft des Gedenkens im Zeitalter der Globalisierung.

Die globale Verschränkung vormals getrennter nationaler Diskurse zu politischen und historischen Themen ist eine relativ neue Herausforderung für die Wissenschaft und ihre Methodiken. Vergleichende Studien zu den verschiedenen nationalen Gedächtnissen und kollektiven Erinnerungen werden immer wichtiger, und diese vergleichende und dekontextualisierende Verfahrensweise bezieht sich neuerdings auch verstärkt auf den Holocaust.

Nicht nur im Extremfall wird diese Vorgehensweise selbst zur Ideologie, etwa wenn historische Tatsachen und Wahrheiten generell unterschlagen oder zum Spielmaterial konstruktivistischer Theorie werden. Aber auch im besten Fall ist es schlechterdings unmöglich, historisch-gesellschaftliche Erinnerung zu betreiben, also im Interesse der Erkenntnis und Kritik gegenwärtiger Gesellschaft diskursiv mit der Vergangenheit umzugehen, ohne das historische Material zumindest zu einem gewissen Grad aus dem geschichtlichen Kontext herauszulösen.

Der Vorteil vergleichender Ansätze liegt auf der Hand. Die Beschränktheiten nationaler kollektiver Erinnerungen und damit nationaler Ideologie geraten viel schärfer in den Blick, wenn sie mit anderen kollektiven Erinnerungen konfrontiert werden. Der Nachteil des komparatistischen Ansatzes ist jedoch offensichtlich.

Es ist nicht dasselbe, ob die Kritik an der »Amerikanisierung« des Holocaust in den USA, in Deutschland oder in Israel geäußert wird, was ernst zu nehmende ForscherInnen bereits vor dem Auftreten des Verschwörungstheoretikers Norman Finkelstein aufgefallen ist. So Hilene Flanzbaum in dem von ihr herausgegebenen Sammelband »The Americanization of the Holocaust« oder Peter Novick mit »The Holocaust in American Life«. Deren Argumentationen sind nicht so leicht zu entkräften wie Finkelsteins abstruses Konstrukt vom »Shoah Business«, das angeblich die Erinnerung manipuliere, um Kasse zu machen.

Neuere diskursanalytisch operierende Untersuchungen, die sich nicht auf den Holocaust selbst, sondern auf seine heutige Rezeption konzentrieren, kommen immer wieder zum selben Ergebnis. Die Dekontextualisierung des Holocaust führe zu einer instrumentellen Verkürzung. Nicht das Ereignis selbst interessiere mehr, sondern seine gegenwärtige Verwendung. Die Erinnerung an den Holocaust werde so formuliert, dass kollektive Identität und kollektives Gedächtnis miteinander kompatibel werden, argumentiert Peter Novick. Diese Form des Gedenkens diene letztlich zur Begründung von allem und jedem und führe zu geschmacklosen Differenzierungen zwischen »echten Genoziden« und »bloßen Grausamkeiten«. Die »Amerikanisierung des Holocaust« habe dazu geführt, dass das Thema Holocaust in den vergangenen 30 Jahren vom Rand in das Zentrum der amerikanischen Kultur vorgedrungen sei. Damit einher gehe eine Funktionalisierung, Trivialisierung und Vermarktung zum Zwecke der Massenwirksamkeit.

Novicks Kritik der Dekontextualisierung zeigt einige Probleme dieses Verfahrens auf, bietet jedoch keine politischen Lösungen an. Laut Novick produziert die Rede von der Singularität des Holocaust als logische Gegenthese in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Ergebnisse und erfüllt mithin eine fragmentierende Funktion. In Deutschland bedeute Kontextualisierung eine Relativierung, nämlich die Gleichsetzung von Verbrechen an Deutschen mit Verbrechen von Deutschen. Deswegen habe man hier zu Recht gegen diese Gleichsetzung auf der Einzigartigkeit des Holocaust beharrt.

Dieselbe Rede von der Einzigartigkeit des Holocaust erfülle dagegen in den Vereinigten Staaten die entgegengesetzte Funktion. Sie führe zur Flucht vor moralischer und historischer Verantwortung, zur ideologischen Externalisierung des Bösen und zur Rechtfertigung der eigenen Außenpolitik als Menschenrechtspolitik. In Deutschland habe man aus der Singularitätsthese die politische Konsequenz gezogen, die ehemaligen Zwangsarbeiter zu entschädigen, in den USA koste sie höchstens ein paar Tränen und führe zur Flucht aus der Verantwortung für die eigene Geschichte und Gegenwart.

Genau an dieser Frage von Dekontextualisierung, Fragmentierung der Erinnerung und der Frage der Instrumentalisierung oder der Folgenlosigkeit des Holocaust setzt die Studie von Daniel Levy und Natan Sznaider »Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust« an. Ihre einfache und überzeugende These zur kontextualistischen und damit auch relativistischen Problematik der vergleichenden Holocaust-Rezeptionsforschung besagt, dass kollektive Erinnerung heute nur noch im Kontext der Globalisierung analysiert werden kann.

Die globale Aneignung wirke nicht nur dekontextualisierend, sondern vor allem auch deterritorialisierend auf die kollektive Erinnerung ein. Nicht nur werde durch die »Amerikanisisierung« der Holocaust aus seinem europäischen Kontext herausgezogen, sie erlaube es schließlich auch viel besser, den Holocaust als »moralischen Imperativ« zu verwenden, um die notwendig durch historischen Abstand und verschiedene Erfahrungen fragmentierten Erinnerungen an den Holocaust in der Gegenwart wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen zu können. Die nationalen Gedenkdiskurse seien dabei zumindest zum Teil »ein nationaler Reflex auf den Globalisierungsdiskurs« und mithin als Versuch zu verstehen, »den zunehmend diskreditierten Begriff der Nation durch den der kollektiven Erinnerung zu ersetzen«. Deren Verschränkung ermögliche die Entstehung eines globalen Gedächtnisses, in dem der Holocaust einen zentralen Platz einnimmt: trivialisiert, aber moralisch bindend und politisch folgenreich.

In ihrer Studie gehen die beiden Soziologen darauf ein, wie die nationalen Erinnerungsdiskurse in Deutschland, Israel und in den Vereinigten Staaten auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren. Entscheidend ist für Levy und Sznaider dabei das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus. Kollektive Erinnerung ist das jeweilige Selbstverständnis und die Ideologie des Nationalstaats.

Auschwitz und die Vernichtung der Juden in Europa dagegen stellen ein Ereignis von globaler und universaler, also die ganze Menschheit umfassender Bedeutung dar. Die Globalisierung bewirke ganz allgemein eine Angleichung von Werten und Erinnerungen, und im besonderen Fall des Holocaust biete diese Angleichung die Chance, dass sich so etwas wie ein kosmopolitisches Gedächtnis herausbilde.

Kosmopolitische Erinnerung, so Levy und Sznaider, entwickele sich nicht nach einem linearen Modell. Auch in Zukunft werde sich in den Erinnerungen die dialektische Artikulation von partikularen und universalen Formen des Gedenkens ereignen. Allerdings werden diese Formen des Erinnerns mehr und mehr von der Populärkultur und weniger von den Historikern der nationalen Geschichtsschreibung geprägt sein. Das kollektive Gedächtnis kann sich also, folgt man Levy und Sznaider, auch mithilfe von Produkten und Verfahren der Kulturindustrie aus den ethnisch-nationalen Grenzen lösen und bekommt so eine neue Bedeutung, mit der sich die Prinzipien einer Menschenrechtspolitik im 21. Jahrhundert schaffen lassen. Die Erinnerungen an den Holocaust erlauben die Bildung europäischer und weltweiter Gedächtniskulturen, die zur Grundlage globaler Menschenrechtspolitik werden können.

In ihrer vergleichenden Analyse, die sich mit der Geschichtspolitik, den wissenschaftlich-politischen Debatten zum Holocaust sowie dem kollektiven Gedächtnis seit den fünfziger Jahren in den USA, Israel und Deutschland beschäftigt, zeigen die Autoren allerdings nicht nur die sich daraus ergebenden Möglichkeiten globaler Menschenrechtspolitik auf, sondern zugleich auch die Grenzen kosmopolitischer Erinnerungsdiskurse.

Wie eine institutionell abgesicherte, mini-globalisierte, nämlich europäisierte Form der Holocaust-Erinnerung aussehen kann, konnte man auf der Stockholmer Holocaust-Konferenz im Januar 2000 erleben. 40 nationale Delegationen und Regierungschefs trafen sich hier, um über die ethischen Grundlagen der Politik im 21. Jahrhundert zu reden und um schließlich im Holocaust einen negativen Gründungsmythos für die Europäische Einigung zu konstruieren. Die Befreiung von Auschwitz mutierte zur Geburtsstunde Europas.

Aus dieser Perspektive gibt es keine »schuldigen Opfer« mehr, vielmehr sind alle »Opfer« unschuldig geworden, wie Levy und Sznaider zu Recht kritisieren, und somit zählen auch die Deutschen zur Gruppe der Opfer. Die Zuschreibung des Opferstatus setzt voraus, dass sich ein Kollektiv - wie die Deutschen - zur Täterschaft bekannt hat. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung wird dadurch zum Exportartikel, seine Europäisierung kostet nichts mehr, im Gegenteil bringt sie etwas ein. Seiner deutschen Spezifik beraubt und zu einer Universalie erklärt, wird auch ein Teil der historischen Verantwortung für Auschwitz auf andere Staaten übertragen.

Somit gehen nicht nur historische Besonderheiten verloren, wenn der Holocaust vorbehaltlos in eine globale Menschenrechtspolitik integriert werden soll. Der industrielle Massenmord wird dadurch auch auf eine lediglich besonders offensichtliche und brutale Form der Menschenrechtsverletzung reduziert. Vielleicht wird diese Gefahr des Verlustes jeglicher historischer Spezifität und damit auch verbindlicher moralisch-politischer Bedeutung zum Anlass, neu über das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus des Holocaust und über seine Instrumentalisierung für politische Interessen der Gegenwart nachzudenken.

Wenn es nicht gelingt, die Erinnerung an den Holocaust mit den von den beiden Autoren beschriebenen diskursiven Mechanismen des globalen Menschenrechtsdiskurses zu vermitteln, dürfte der Holocaust langfristig tatsächlich dem Vergessen anheim fallen.

Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. DVA, München 2001, 431 S., DM 44

Daniel Levy/Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001, 254 S., DM 36