Interimsregierung in Afghanistan

Der Samurai von Kabul

Die meisten Regionen Afghanistans werden von unabhängigen Warlords kontrolliert. Mit finanziellen Anreizen und der Hilfe internationaler Truppen will die Interimsregierung nun ihren Herrschaftsbereich erweitern.

Die somalischen Zuschauer im Dualeh-Kino applaudierten, doch galt ihr Beifall nur einer Szene des Films und dürfte dessen Regisseur Ridley Scott nicht erfreuen. Sein patriotisches Kriegsdrama »Black Hawk Down« über ein Gefecht während der UN-Intervention in Somalia kursiert seit der vergangenen Woche auf kopierten Video-Kassetten in der Hauptstadt Mogadischu. Die Szene, die es den Zuschauern angetan hatte, zeigt den Abschuss zweier US-Hubschrauber.

In den nun wieder eröffneten Kinos Kabuls wird der Film noch nicht gezeigt. Würden die afghanischen Zuschauer eher den US-Truppen applaudieren? Glaubt man Hamid Karzai, dem Premierminister der Interimsregierung, so befürwortet die Bevölkerung nicht nur die Anwesenheit der International Security Assistance Force (Isaf), sondern auch die Ausweitung ihrer derzeit auf Kabul beschränkten Präsenz auf andere Städte.

Karzais Außenminister Abdullah erklärte am Freitag, die meisten Afghanen seien dankbar für die US-Hilfe bei der Vertreibung der Taliban. Er forderte eine längere Präsenz der US-Truppen, ahnt aber auch, dass »einige, die Macht verloren haben«, deren andauernde Anwesenheit »gegen uns benutzen möchten«.

Bislang verhielt sich die Isaf kompromissbereit gegenüber den Warlords. Im Bonner Abkommen (Jungle World, 51/01) war vereinbart worden, dass alle Militäreinheiten bei der Ankunft der Isaf Kabul verlassen müssen. Burhanuddin Rabbani, dessen Truppen den größten Teil der Hauptstadt kontrollieren, erklärte seine Kämpfer daraufhin zu Polizisten. Nun fahren sie gemeinsam mit den Isaf-Soldaten Patrouille. Außerhalb Kabuls aber agieren die regionalen Machthaber faktisch unabhängig, immer wieder kommt es zu Gefechten rivalisierender Fraktionen. Jeder Versuch, die Kontrolle der Regierung auf das ganze Land auszuweiten, dürfte auf ihren Widerstand stoßen.

Bei der UN-Intervention in Somalia 1992 bis 1995 endete das »nation-building«, der Versuch, eine zentralstaatliche Herrschaft durchzusetzen, in einem Desaster. Eine Einigung zwischen den Warlords sollte vermittelt und, wenn nötig, militärisch erzwungen werden. Beim Kampf gegen die Miliz Farah Aidids, der sich diesen Plänen widersetzt hatte, gerieten amerikanische Einheiten der UN-Truppe Unosom am 3. Oktober 1993 in den von Scott verfilmten Hinterhalt, 18 Elitesoldaten starben. Einige Wochen später wurde der Kampf gegen Aidid ergebnislos beendet. Nach dem Truppenabzug setzten die Warlords ihre Machtkämpfe ungestört fort.

Die USA hatten aus dem somalischen Desaster die Schlussfolgerung gezogen, zukünftig auf Versuche von »nation-building« zu verzichten. Afghanistan dem Machtkampf bewaffneter Fraktionen zu überlassen, würde aber nicht nur die politische Legitimation des Krieges in Frage stellen. In einem neuen Bürgerkrieg könnten sich möglicherweise auch die Taliban und al-Qaida wieder etablieren. Dass sowohl der ehemalige Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar als auch Ussama bin Laden unauffindbar bleiben, deutet darauf hin, dass es noch ein funktionierendes Netzwerk von Sympathisanten gibt.

Nachdem Zalmay Khalilzad, der 1997 als Repräsentant des Ölkonzerns Unocal mit den Taliban über den Bau einer Pipeline verhandelte, zum US-Gesandten für Afghanistan ernannt wurde, kam erneut der Verdacht auf, eine Wiederaufnahme des Projekts stehe auf dem Programm. Doch die US-Regierung hat auf die Bildung der Interimsregierung zwar Einfluss genommen, aber darauf bestanden, dass andere Staaten ebenfalls Verantwortung übernehmen, unter ihnen Deutschland, das anders als die USA kein Interesse daran hat, Russland und den Iran von der Erschließung der mittelasiatischen Energievorräte auszuschließen. Und der Standort Afghanistan ist von der für die Verwirklichung eines Milliardenprojekts notwendigen Stabilität noch weit entfernt.

Auch während der Intervention in Somalia war vermutet worden, die US-Regierung hätte das Land zum neuen Eldorado für ihre Ölindustrie auserkoren. Doch seitdem wurde kein einziger Bohrturm errichtet. In Somalia ging es, wie derzeit in Afghanistan, insofern um die Interessen der kapitalistischen Großmächte, als das Ziel die Herstellung einer für jede geregelte Geschäftstätigkeit unerlässlichen Stabilität war. Die Intervention scheiterte, weil ein tragfähiges politisches Konzept fehlte.

Warlordisierung bedeutet Auflösung der Klassenstrukturen in Verhältnisse direkter persönlicher Abhängigkeit, während im Bürgerkrieg die Reste traditioneller Hierarchien weiter an Bedeutung verlieren. So gelang es nicht, politische Alternativen zu den bewaffneten Fraktionen aufzubauen, und auch der Versuch, traditionelle Strukturen wieder zu beleben, scheiterte. Als die Uno das militärische Kräfteverhältnis ändern und Aidid ausschalten wollte, war die Konfrontation unvermeidlich.

Auch die Zusammensetzung der afghanischen Interimsregierung entspricht nicht dem militärischen Kräfteverhältnis. Die konservative Fraktion Karzais, die den ehemaligen König Zahir Schah unterstützt und gemeinsam mit einer schmalen Schicht von Intellektuellen und Technokraten ein Gegengewicht zur Nordallianz schaffen soll, ist überrepräsentiert. Benachteiligt fühlen sich insbesondere Rashid Dostum und Ismail Khan, die neben Rabbani mächtigsten Warlords.

Nun sollen vor allem finanzielle Anreize die Stabilität der Interimsregierung sichern. Bei der Afghanistan-Konferenz in Tokio wurden ihr am Dienstag vergangener Woche 4,5 Milliarden Dollar versprochen. Eine exakte Auflistung der von den einzelnen Staaten zugesagten Beträge wurde jedoch nicht veröffentlicht, die Zusagen sind rechtlich unverbindlich. Trotz dieser Unklarheiten erklärte Karzai pflichtgemäß, er sei »sehr dankbar«. Sollte er allerdings seine Ankündigung wahr machen, »wie ein Samurai gegen Korruption« zu kämpfen, dürfte es Probleme mit den Warlords geben.

Die Interventionsmächte stehen in den kommenden Monaten vor der Entscheidung, ob sie ihre politischen Vorstellungen nötigenfalls mit Gewalt durchsetzen wollen. Für eine Konfrontation aber sind sie bislang nur unzureichend gerüstet. Die Truppenstärke der Isaf soll bis März auf 5 000 wachsen. Darüber hinaus sind derzeit etwa 4 000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert, die getrennt von der Isaf operieren. Die Unosom-Truppe zählte auf dem Höhepunkt der Intervention mehr als 25 000 Soldaten.

Und anders als in Somalia können die Milizen zudem auf die Unterstützung einflussreicher Nachbarstaaten, vor allem des Iran, zählen. Am 10. Januar warnte US-Präsident George W. Bush das iranische Regime vor Versuchen, die Interimsregierung zu destabilisieren. Der iranische Außenminister Kamal Kharrazi bestritt die Vorwürfe, sein Regime würde Ismail Khan und islamistische Milizen mit Geld und Waffen unterstützen. Sein Dementi fand die Zustimmung des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der am Samstag in Teheran erklärte: »Der Iran spielt eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau Afghanistans.«

In Tokio sagte das iranische Regime der Interimsregierung Kredite und Finanzhilfen in Höhe von 500 Millionen Dollar zu. Andererseits erklärten Ali Akbar Nateq-Nuri, der wichtigste Berater des obersten religiösen Führers Ali Khamenei, und andere einflussreiche Prediger, die Interimsregierung beabsichtige, im Auftrag der USA Afghanistan zu einem säkularen Staat zu machen. Ob es sich hier um Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Fraktionen des Regimes handelt oder um eine Doppelstrategie, die dem Iran in allen Wechselfällen Einfluss auf die afghanische Politik erhalten soll, ist noch unklar.

Unklar ist auch, ob Karzai tatsächlich einen säkularen Staat durchsetzen will. Fazul Hamid Shinwari, der Oberste Richter Afghanistans, jedenfalls hat angekündigt, an der Sharia festzuhalten. Amputationen und Hinrichtungen sollen auch öffentlich stattfinden: »Gott sagt, dass einige Menschen präsent sein müssen, um die Bestrafung zu bezeugen.« Als Strafe für Alkoholkonsum sind 80 Peitschenhiebe vorgesehen. Die deutschen Soldaten, für die bald die ersten Paletten Dosenbier eingeflogen werden sollen, haben aber Glück. Shinwaris Strafandrohung gilt nur für Muslime.