Die al-Qaida-Gefangenen auf Kuba

Deutsche Moral

»Weshalb maßen sich die europäischen Staaten an, Zivilisation und Gesittung in fernen Erdteilen zu verbreiten? Weshalb nicht in Europa?« fragte Joseph Roth bereits 1937. Die Frage hat nichts an Aktualität eingebüßt.

Gefangene al-Qaida Kämpfer werden, wie hiesige Medien tagtäglich und detailliert berichten, von den amerikanischen Streitkräften in Käfigen auf exterritorialem Gebiet, in Guantanamo Bay (Kuba), inhaftiert. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen und europäische Regierungsvertreter haben diese Praxis bislang als gegen bestehende Normen verstoßende kritisiert, was umgehend und voller Genugtuung in Deutschland kommentiert wurde.

Statt aber - eingedenk der hier erfundenen Isolationshaft in Hochsicherheitstrakten, der Putativnotwehr und der mehrmals lebenslänglichen Haftstrafe für Terroristen ebenso wie vor dem Hintergrund der ungeklärten Todesfälle in Stammheim - mit einem Stoßseufzer festzustellen, dass man es auch in anderen bürgerlichen Gesellschaften mit den Menschenrechten nicht so genau nimmt, schlägt sich stellvertretend für den Rest Rudolf Augstein in der Pose des besseren, weil deutschen Demokraten auf die Brust: »Eine Demokratie ist immer nur so gut, wie sie sich gegenüber dem (mutmaßlich) schlimmsten Terroristen verhält.« (Spiegel, 4/02) Augstein kann sich des Applauses eines Establishments sicher sein, welches gekränkt über den Atlantik schaut, wie dort einmal mehr die USA eine Niederlage in einen Sieg verwandelt haben. »Die Amerikaner«, doziert er deshalb, »können sich nur dann aufs hohe moralische Ross setzen, wenn sie sich an ihren eigenen Maßstäben messen lassen.«

Sein Neid lässt ihn zugleich ein Betriebsgeheimnis des Antiamerikanismus ausplappern, dem nicht das Schicksal der al-Qaida-Leute am Herzen liegt, sondern den die Tatsache wurmt, dass die USA seit Jahrzehnten gut und erfolgreich mit dem Widerspruch leben, der zwischen bürgerlicher Theorie und ihrer Praxis besteht. Sicher verhält sich die US-amerikanische Außenpolitik nicht nach der Maßgabe der »Declaration of Human Rights«, und sicher wäre es erfreulich, wenn sie dies täte. Im Gegensatz zu Deutschland aber können die Handlungen der USA jederzeit an der sie einst konstituierenden bürgerlichen Revolution gemessen werden.

Deutschland dagegen ist immer dann identisch mit sich selbst, wenn Theorie und Praxis in der Vernichtung zusammenfallen. Dass nach Auschwitz gewisse bürgerliche Grundsätze den Deutschen von den Alliierten dekretiert wurden, nehmen sie insbesondere den USA offenbar immer noch übel. Im Umgang mit seinen Terroristen fand Deutschland 1977 nämlich kurzzeitig wieder ganz zu sich selbst, als etwa ein Kanzlerkandidat öffentlich vorschlug, inhaftierte RAFler extralegal exekutieren zu lassen, und in der Bevölkerung dabei auf große Zustimmung stieß. Eine Demokratie, hieß es damals, müsse in der Stunde der Not vor allem ihre Wehrhaftigkeit beweisen. Wer dagegen unbeirrt auf die Einhaltung und damit die Idee der Menschenrechte pochte, war schnell als Sympathisant der Staatsfeinde ausgemacht. Dass damals die Gefangenen von Stammheim nicht öffentlich liquidiert wurden, konnte unmöglich mit einem Verweis auf entsprechende Maßstäbe in Deutschland erklärt werden, eher schon mit einer Rechtstradition, deren Ursprünge in den anglo-amerikanischen Ländern zu finden sind und die verbriefte Rechte auch für Gefangene vorsieht.

Alleine deshalb schon wäre die Frage müßig, was Augstein, den Eike Geisel einmal das »Sprachrohr des gesamtdeutschen Vorurteils« genannt hat, vorschlüge, ginge es um die Behandlung von erklärten Feinden des deutschen Staates, die im Verdacht stünden, Tausende von Landsleuten auf dem Gewissen zu haben. Auch um seine Antwort nie erfahren zu müssen, ist zu hoffen, dass diese Situation niemals eintritt.