Zum Tod von Pierre Bourdieu

Theoretiker der Praxis

Zum Tod von Pierre Bourdieu.

Pierre Bourdieu hat viele Missverständnisse provoziert. Vielen galt er als statusbesessener Lifestyle-Philosoph, der nichts Besseres zu tun hatte als zu erklären, warum im Klassenkampf Bach über Beethoven über Popmusik siegt, was Kandinsky mit Kartoffelsalat und Zwölftonmusik mit Nouvelle Cuisine zu tun haben. Anderen galt er spätestens seit »La Misère du Monde« (1993) als verkappter Marxist, dem es nach den »Feinen Unterschieden« wieder um die krassen gehe, die er immer gemeint hatte.

Beides ist natürlich völliger Unsinn. Bourdieu hat lediglich seine eigene soziale Herkunft nicht verdrängt, und bis zuletzt galten seine Empathie und Solidarität jenem Milieu der potenziellen Modernisierungsverlierer, dem er selbst entstammt. Pierre Bourdieu, der vergangene Woche im Alter von 71 Jahren in Paris verstarb, wurde 1930 in einem Dorf in den französischen Pyrenäen als Sohn eines Postbeamten geboren, durchlief die akademischen Karriereschmieden Frankreichs zusammen mit Kommilitonen wie Michel Foucault, mit dem er bis zu dessen Tod eng befreundet war, und wurde wie dieser 1982 in das Collège de France aufgenommen.

Er vergaß nie die gesellschaftlichen Bedingungen, die eine derartige wissenschaftliche Institution erst ermöglichen. Wie Foucault konnte auch Bourdieu in seiner Antrittsvorlesung nicht einfach ein scheinbar objektives wissenschaftliches Forschungsprogramm zu Ehren der scientific community oder der Grande Nation vorstellen. Die »Leçon sur la leçon«, wie der Titel dieser Antrittsvorlesung von 1982 lautet, bündelt wie ein Brennglas seine Gesellschafts- und Wissenschaftskritik.

Dem Determinismus der Struktur setzte er die »Freiheit« der Handelnden entgegen, welche die gesellschaftlichen Strukturen in ihren alltäglichen Praktiken reproduzieren. Seine zentralen Begriffe wie »Habitus«, »sozialer Raum«, »soziales Feld«, »symbolisches Kapital« sind auf diese Frage der Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturen bezogen. Das Konzept des sozialen Raums vereinigt so die produktiven Aspekte von Karl Marx' und Max Webers Klassentheorie und kann erklären, weshalb »Menschen gegen ihre Interessen« handeln - eben weil sie als soziale Wesen viel komplexer denken und handeln als von der Theorie vorgesehen. Den radikalen Gesellschaftsbegriff Durkheims beibehaltend - und damit radikaler noch als Marx -, vermeidet er den verkürzenden Objektivismus des Strukturalismus und seiner Nachfolger, für die sich Fragen und Probleme des Sozialen und der Gesellschaft hauptsächlich im Imaginären abspielen.

Im Gegensatz zu beiden Schulen, Objektivisten wie Subjektivisten, beharrte Bourdieu klassisch aufklärerisch darauf, dass es Akteure gibt, deren Handlungen im sozialen Raum »Sinn« ergeben. Mit seinen aus der Theorie der Praxis entwickelten Begriffen wie dem des »symbolischen Kapitals« oder des »Habitus« gelang es ihm, jenseits der binären Oppositionen von Struktur und Handlung, Individuum und Gesellschaft zu operieren und echte soziologische Analysen zu erstellen.

Den Habitus definierte er als »strukturierte strukturierende Struktur«. Sein Konzept des symbolischen, sprich: kulturellen und sozialen Kapitals relativierte zwar die Bedeutung des ökonomischen Kapitals, stellte aber zugleich wieder dessen theoretischen wie praktischen Vorrang heraus und verwies auf die Ökonomisierung der Kultur, der sozialen Verhältnisse und selbst des Denkens, der Ethik und Ästhetik.

Der soziale Raum der Akademie, wie er ihn im »Homo Academicus« und in »La Noblesse d'Etat« analysiert hat, benennt zugleich die Gründe, die ihn Anfang der neunziger Jahre dazu bewegten, die Universität gegen die politische Arena zu tauschen. Der akademische Habitus ist im Gegensatz zu dem des engagierten Intellektuellen extrem begrenzt und konservativ. Wirklich Neues kann hier nicht gedacht werden. Allerdings ist nicht nur die Wirkung, sondern auch der mögliche Schaden, den diese Wissensproduktion anrichtet, auf die Universität begrenzt.

Dies gilt nicht für den Aktionsraum des engagierten Intellektuellen der neunziger Jahre, der die globalisierungskritische »Charta 2000« mit initiierte und als ihr theoretischer Kopf galt. Bourdieu wusste, dass der weitgehend symbolische Kampf der Antiglobalisierungsbewegung institutionell nicht genügend abgesichert und politisch wie ideologisch höchst anfällig für Eurozentrismus, Nationalismus und Antisemitismus ist.

Dass er trotzdem mit Begriffen wie »Finanzkapital« um sich geworfen und Antiamerikanismus produziert hat, weist auf Probleme der Theorie zurück. Bourdieu konnte einfach nicht einsehen, dass nicht alle Beteiligten ähnlich komplex denken wie er. Er ging davon aus, sie würden schon wissen, wo entsprechende Äußerungen habituell, theoretisch und praktisch einzusortieren sind. Er glaubte als wissenschaftlicher Aufsteiger an die »befreiende Kraft der am wenigsten illegitimen symbolischen Macht, die der Wissenschaft«, und er wollte den Elenden dieser Welt wieder zu einem Status verhelfen, der sie wieder zu »gesellschaftlichen Subjekten mit Herrschaft über jene trügerischen Transzendenzen« macht, die durch die Ideologie der Gegenwart stets aufs Neue erzeugt werden.

Sein letztes Werk, »Les Structures sociales de l'économie«, zeigte allerdings auch seinen Kritikern noch einmal deutlich, dass sie, nicht Bourdieu, Vereinfacher sind. Bourdieu verbindet seine intellektuelle Herkunft aus der Ethnologie und der Kritik des Kolonialismus mit seiner aktuellen Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Die scheinbar verselbstständigte »neoliberale« Welt des globalisierten (wie des nationalen) Kapitals beruht auf und zehrt von sozialen Strukturen, die nicht die ihrigen sind.

Deshalb sind jene sozialen und kulturellen Praktiken als Basis der sozialen Kämpfe gegen ihre komplette Unterwerfung unter das Kapitalverhältnis zu gebrauchen. Dass es lohnt, verschiedene Strategien gegenüber unterschiedlichen Kapitalfraktionen und -sorten zu verfolgen, dass keineswegs eine vollständige Ökonomisierung des Sozialen erfolgt ist und nur deshalb auch Widerstand und subversives Handeln möglich sind, hat Bourdieu immer wieder bewiesen. Und eben auch, dass der deregulierte Kapitalismus selbst keine nachhaltigen sozialen Strukturen zu schaffen im Stande ist.

Mit Bourdieus Tod ist der scharfsinnigste Kritiker an den symbolischen Formen einer europäischen Variante von globaler bürgerlicher Wettbewerbsgesellschaft verstummt. Als Meister der sozialen Selbstreflexion wäre er im Stande gewesen, einen Habitus zu konstruieren, der aus dem Widersprüchlichen einen Sinn formt, also gleichzeitig einzutreten für die Globalisierung des variablen und gegen die Globalisierung des fixen Kapitals, für die soziale Rolle des Nationalstaats, aber gegen seine repressive Funktion, für einen europäischen Sozialstaat und gegen den Euro, für unreglementierte Einwanderung und gegen soziale Unterschichtung, für soziale Modernisierung und Fortschritt und gleichzeitig für nicht kommodifizierte soziale Verhältnisse. Heraus kommt der ordinäre Globalisierungsgegner, der Surfer auf den gesellschaftlichen Widersprüchen des 21. Jahrhunderts.