Tagebuch, 3. Teil

Den Gemüseladen meiden

Der dritte Teil des Tagebuchs

Samstag, 1. Dezember

In der Nacht gab es im Spiegel-Fernsehen eine lange Dokumentation über den Vietnamkrieg. Amisoldaten zünden vietnamesische Dörfer an, zerstören Tempel. Irre, dass es davon Bilder gibt. Jede Kritik am Krieg sei abzulehnender »Negativismus«, sagte Ashcroft auf CNN und man kann's nicht mehr hören, das gilt als normal. Wozu guckt man sich die Scheiße überhaupt an?

Fest in der Manteuffelstaße. Das Haus war Anfang der Achtziger besetzt worden. An einer Wand der riesigen Küche hängen Schwarz-Weiß-Fotos von früher. Alle sind nun um die 40. Yves hatte Geburtstag und kochte für 40 Leute. Früher kochte er für die taz, wollte mal kurz an die Filmhochschule dffb, studierte dann Literaturwissenschaften und wurde dann Schriftsteller. Manchmal arbeitet er auch im Kumpelnest. Vor einem halben Jahr hatte sein erstes Buch in der Schweiz einen Preis bekommen. Er hatte mir das Buch geschenkt; ich konnte es nicht lesen, weil mein Französisch nichts mehr taugt.

Max Müller sagte, der Titel für das neue Mutter-Album - »Europa gegen Amerika« - sei nicht so klug gewählt gewesen. Einige Plattenhändler hätten die CD anfangs boykottiert. Die T-Shirts hätten sich auf der Tour sehr schlecht verkauft. E. saß auch da. Vor 15 Jahren hatten wir uns bei den Dreharbeiten zu Rosa von Praunheims »Horror Vacui« kennen gelernt. Zwei Wochen lang waren wir Mitglieder der von Lotti Huber angeführten Sekte »Optimaler Optimismus« gewesen. Die Nachtigall von Ramersdorf spielte ihren Mann und war großartig. »Erkennst du mich noch?« fragte E. Klar, und es war so eine angenehm kollektive Ex-Hausbesetzer-Stimmung mit Gesprächen über George Harrison und das Fortpflanzungsverhalten von Muscheln und dann kam K., der dachte, ich würde ihn verachten, weil er für die FAZ schreibt. Freunde hätten sich von ihm abgewandt, weil er für die FAZ schreibt. Ich finde es nicht weiter schlimm, für die FAZ zu schreiben.

In zwei, drei Jahren wird keiner mehr daran denken, dass die PDS mal SED hieß. Der Samstag hat Probleme, in Gang zu kommen. Tischtennis fällt aus; man hat auch keine Lust, in der Kneipe Bundesliga zu gucken, weil man danach angetrunken ist von den zwei Bieren, die man nun mal trinken muss, wenn man Fußball guckt, und der Tag ist dann erledigt, zumal Schalke ja eh immer verliert. Wie eine Wüste liegt der Samstagnachmittag vor einem. Eigentlich sollte man zur Anti-Nazi-Demo gehen.

Bei der letzten Anti-Nazi-Demo hatten wir N. und G. getroffen. Beide aus dem alten Westberliner Trash-Umfeld. Hausbesetzer, Musik, Drogen, Pop-Existenzialismus. Ein paar Wochen später brachte sich G. um. Sie hätte kurz zuvor eine Alkentziehungskur gemacht, es hätte keine Nachbetreuung gegeben. Das waren die Umstände, die man von außen hörte. Anstatt sein Leben zu ändern, hing man nach ihrem Tod ein paar Wochen fast nur nur noch an der Playstation.

In der Nacht die Verfilmung einer Geschichte von Stephen King. Es ging um ein grellbuntes Kinderspielzeug, ein Gebiss, das sich selbständig macht und die Leute totbeißt, und einen Aufstand der Hände, die sich vom Körper lösen wollen. »Brecht die Diktatur des Körpers. Löst euch vom Körper.« Die selbständigen Hände ziehen den Körper, der sich zu wehren versucht, über den Flur zur Küche, wo die scharfen Messer sind.

Dienstag, 4. Dezember

»Woll'n wir einen rauchen?« - »Klar!« Mein Gras war besser. Er meinte, die Asche der billigen Kohle sei schwerer als die Asche von Union, Rekord usw. Weil die Ausschussware aus Tschechien oder Polen nicht so heiß verbrennt. Deshalb verschmutzt sie den Raum nicht so sehr wie die teure Kohle. Andererseits produziert die billige Kohle mehr Asche.

Mittwoch, 5. Dezember

Spazierengehen. R. steht mit einem Bier in der Hand in der Nähe des Ufers. Wir gehen zusammen am Landwehrkanal, am Urbanhafen entlang. Wir sprechen über das Essen von Hunden und Pferden und er sagt, der Sauerbraten, den seine Mutter immer machte, sei so gut gewesen, so was würde er gerne noch mal essen. Geht nur nicht: Er hatte sich mit seiner Mutter völlig entzweit, und der Vater sei ja sowieso schon lange tot.

Donnerstag, 6. Dezember

Kohlen holen bei Katrin. Sie erzählte, sie hätte Eberhard Diepgen auf der Straße in Mitte irgendwo gesehen. Bevor ihr Buch vor einem Jahr rauskam, hatte ich gedacht, sie würde nun bestimmt berühmt werden, und sie hatte sich vorgestellt, wie sie in Interviews dann sagen würde, dass sie gern kifft. Wurde alles nichts. Der Anarchoverlag, bei dem das Buch erschienen war, hatte sie nicht besonders gut unterstützt. Wahrscheinlich arbeitet sie gar nicht weniger als ich, nur eben nicht für Geld. Wir dachten zurück; an das HertieKaufhaus am Halleschen Tor und wie toll die Lebensmittelabteilung im vierten Stock doch war. Dann, den Eimer Briketts am Lenkrad, mit dem Fahrrad nach Hause.

Montag, 10. Dezember

Die CD-Klappe schließt nicht richtig. Das ist feng-shui-technisch äußerst schlecht. Grauer Tag, Nieselregen. Viel Arbeit. Der neue Mitbewohner telefoniert auf dem Klo, das kaum einen Quadratmeter groß ist. H. schläft bis zu 14 Stunden am Tag und ballert sich an jedem Wochenende weg, erzählt C. Komisch eigentlich, dass man das spontan verwerflicher findet, als wenn er sechs Stunden schlafen und dafür ein paar Stunden mehr Drogen nehmen würde. Man hat wohl doch eher eine ästhetische Weltanschauung. Deshalb sieht man den toten Schwan, der im Landwehrkanal schwamm, und am Ufer lag ein zerknäueltes Fahrrad.

Freitag, 14. Dezember

Abends Maxim-Gorki-Theater. Noch nie dagewesen zuvor. Panisch wie immer suchte ich draußen in der Mülltonne im Hof nach einem alten tip wegen der Adresse. War nix da. Dann raste ich wie ein Besengter mit dem Rad in Richtung Museumsinsel; fragte auf dem Weg einen Taxifahrer nach dem Maxim-Gorki-Theater. So einen Langhaarigen. Bestimmt Ostler. Sonst hätte er das ja nicht gewusst. Letzten Sommer hatte ich zwei Termine vergeigt, war zu spät gekommen und man hatte mich nicht mehr reingelassen in den Prater. So was kostet dann ca. 120 Mark.

Samstag, 15. Dezember

Ausgehen. Bei der Vernissage mit Bildern von Evelyn Höhne in einer dieser kleinen Galerien in der Choriner Straße gab es Rothäuser Tannenzäpfle-Bier. Früher war Corona-Bier in; jetzt eben Tannenzäpfle. A. sagte, sie schlafe zur Zeit oft zwölf Stunden und dann hätte man so viel Energie, etwas Tolles zu machen; sie hat aber eigentlich nix zu tun und macht dann eben Gymnastik. Ich erzähle von meinen Suchtabstürzen mit Playstation und Internet. Letztes Jahr hatte ich zusammengerechnet bestimmt einen Monat Autorennen gemacht. Später Party, in niedrigen Kellerräumen unter einer Galerie. Das Publikum ist schwer einzuordnen. Kurzhaarige kräftige Prols mit Karohemden, vor denen man sich anderswo gefürchtet hätte. Bernd aus Norddeutschland sprach platt und rauchte ununterbrochen Joints. Zwei, drei Langhaarige mit Teppichjacken. Der DJ machte Drogenmusik. Wir gingen dann wieder. Wir mussten ja beide am nächsten Vormittag arbeiten.

Sonntag, 16. Dezember

An Wochenenden macht man oft kleinere Hausarbeiten. Den Fensterrahmen putzen zum Beispiel. Man kann ja nicht arbeiten, wenn die Fensterrahmen so dreckig aussehen.

Internetabstürze. Man geht rein, findet was, lädt ein paar Minuten was, stürzt wieder ab. Und das den ganzen Tag über. Dann war es drei Uhr nachmittags. Der kleine dicke Alkoholiker schrie irgendwas, als ich an seiner Wohnung vorbei die Treppe runterging. Er schreit oft, wenn Leute an seiner Wohnung vorbeigehen. Alle würden zu viel Lärm machen.

Montag, 17. Dezember

Party bei der Jungle World. Das Büffet ist gut. Auffällig viele Torten.

Günter, der den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen mitgegründet hatte und nun Berufsschullehrer in Kreuzberg ist, erzählt von Schülern, die sich huntertmal um Lehrstellen beworben hätten und hundert Absagen gekriegt hätten. In einer Klasse hätte er einen von der PKK, einen Hamas-Aktivisten, einen vom Jihad usw. Bei den Mädchen sei es nicht ganz so deprimierend wie bei den Jungs.

Dienstag, 18. Dezember

»U-Bahn-Schubser war davor schon irre: Nachts schrie er seine Möbel an.« (B.Z.)

Gilbert Bécaud ist tot. Die Ausschnitte im Fernsehen waren toll. Dann habe ich »Nathalie« und »Et Maintenant« runtergeladen und fand die Stücke richtig grauenhaft.

Mittwoch, 20. Dezember

Kontoauszüge. Deprimierend: - 4.564,44. Andererseits: Vor einem Monat waren es noch - 5.141,-. Ein bisschen stolz, dass ich im letzten Monat nur 376,- fürs normale Leben ausgegeben habe.

Donnerstag, 21. Dezember

Mail von Lena. Buenos Aires sei so ähnlich wie Kreuzberg am 1. Mai. Hauptstadtreport für Radio Lotte, Weimar. Wir sprachen über Gerüche. Draußen hört man die Leute vor den Häusern Schnee schippen. Angenehmes Geräusch.

Freitag, 22. Dezember

Ich gehe sehr gerne einkaufen. Ich stehe auch sehr gerne in der Schlange an der Kasse. Die meisten der Wege, die man geht, sind Einkaufswege. Die kleinen Wege: Bäcker, Frau Schneider, Gemüse -, die mittleren: edeka -, die weiteren: Markthalle oder Kaiser's oder Penny.

Manchmal blickt man sich ganz kurz an, lächelt, weil man gerade so gestresst durch den Laden läuft, schaut wieder weg. Und meidet danach den Blickkontakt, weil man das Gefühl hat, jetzt müsste man miteinander reden, wenn man sich noch einmal anschaut. Das kommt einem ein bisschen gestört vor, und man denkt, dem anderen wird das wahrscheinlich auch ein bisschen gestört vorkommen, und dann denkt man an Helge Schneider, »Doc Snyder«, diese eine Szene da. »Drei Männer in einem Raum. Da kann man wohl schlecht Fotzen lecken.«

Wenn man bei Kaiser's eingekauft hat, macht man auf dem Rückweg immer einen großen Bogen um den kleinen edeka-Markt. Oder man meidet den türkischen Gemüsehändler, wenn man da grad nicht einkauft, und wenn man auf dem Weg zum woanders Einkaufen ist, hat man beim Grüßen ein schlechtes Gewissen.

Annettes Geburtstag. Jens sagt, er werde im nächsten Jahr wahrscheinlich irgend so eine drei Meter hohe Figur in Dresden an einer Kirche machen. Zwei vor ihm sind daran schon gescheitert. Beide tot. Einer wurde vom Gabelstapler getötet.

Fahrradfahren bei Glatteis. Betrunken nachts auf der Schönhauser Straße beim U-Bahnhof ausgerutscht. Tut weh. Jemand guckt. Man grinst blöde. Und ist später etwas enttäuscht, dass man gar nichts sieht, wo's doch weh tut.

Nächste Woche: »Nur Gott kann allein sein«