Massenproteste in Italien

Aufstand der Arbeitsamen

Ungeachtet des Mordes am italienischen Regierungsberater Marco Biagi avancieren die Gewerkschaften zum wichtigsten politischen Widersacher der Mitte-Rechts-Regierung.

Die neue Protestbewegung gegen die Mitte-Rechts-Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi lässt sich nicht aufhalten. Über zwei, manchen Quellen zufolge sogar drei Millionen unzufriedene Italiener gingen am Samstag in Rom auf die Straße: Arbeiter, Familien, Rentner, Schüler und Studenten. Egal aus welchem Milieu, jeder hatte am Wochenende mindestens einen Grund zu demonstrieren: Lehrer und Schüler die Schulreform, die die privaten Institute stärken soll, Rentner das uneingelöste Wahlversprechen Berlusconis, die Mindestrenten zu erhöhen.

Die Demonstration war nicht nur die größte seit dem Beginn der Proteste gegen die italienische Regierung im Januar, sondern die wohl seit Jahrzehnten größte in Europa. Möglich wurde dieser Rekord deshalb, weil sich der neu entstandenen Bürgerbewegung nun auch die Gewerkschaften angeschlossen haben. So rief die größte linksgerichtete italienische Gewerkschaft CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) gemeinsam mit den konservativen CILS (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori) und UIL (Unione Italiana del Lavoro) zur Großkundgebung in der Hauptstadt auf. Im Mittelpunkt der Proteste sollten die geplante Aufhebung des Kündigungsschutzes sowie die Steuer- und Rentenpolitik stehen.

Doch dass am Ende mehr als zwei Millionen nach Rom kommen würden, hatte niemand erwartet. Selbst das Attentat auf Marco Biagi konnte die Teilnehmer von ihren Protesten nicht abhalten. Am Dienstag vergangener Woche war der Berater von Arbeitsminister Roberto Maroni (Lega Nord) vor seinem Haus in Bologna erschossen worden. Der Anschlag weckte Erinnerungen an ein weiteres Attentat, das vor drei Jahren an Massimo D'Antona, dem Berater des damaligen Arbeitsministers der Mitte-Links-Regierung, verübt wurde. Denn in beiden Fällen tauchten nach der Tat Bekennerschreiben auf, die von einer »bewaffneten Zelle« der Roten Brigaden für den Aufbau der Kämpfenden Kommunistischen Partei unterzeichnet worden waren.

Kurz nach dem Anschlag erschien auf dem Nachrichtenportal www.caserta24ore.it ein 26 Seiten langes Pamphlet gegen das kapitalistische System, in dem es hieß, Biagi habe sich mit den Plänen zur Reform des Arbeitsrechts an der Ausbeutung der Arbeiter beteiligt. Die Linke rätselt seither darüber, ob es sich bei diesen Roten Brigaden tatsächlich um eine neue bewaffnete linke Gruppe handelt oder ob nicht vielleicht Counter-Insurgency-Kräfte dahinter stehen.

Möglicherweise haben gerade dieser terroristische Einschüchterungsversuch und die darauf folgenden Reaktionen der Regierung mehr Menschen auf die Straße getrieben als anfangs erwartet. Denn die Regierung Berlusconi forderte die Gewerkschaften direkt nach dem Anschlag auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, obwohl es offensichtlich ist, dass die Regierung auf die gewerkschaftliche Kritik an der Novellierung des Arbeitsrechts nicht einzugehen bereit ist.

Direkt nach dem Mord an Biagi schob der Forza-Italia-Abgeordnete Carlo Taormina der CGIL die »objektive Verantwortlichkeit« für das Attentat zu. Der Gewerkschaftsbund habe erst »die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Terroristen ihre Dienste zur Verfügung« stellten.« Der CGIL-Vorsitzende Sergio Cofferati hingegen erklärte: »Die Gewerkschaften galten dem Terrorismus schon immer als Feinde, und deshalb waren wir immer seine Opfer. Das zu vergessen, ist unwürdig und unerträglich.« Die CGIL will nun gegen Taormina klagen.

Nicht erst seit dem Anschlag scheinen sich Italiens Gewerkschaften zum gefährlichsten Widersacher der rechten Regierung entwickelt zu haben. Die parlamentarische Opposition des Ölbaum-Bündnisses hingegen wirkt unfähig, dem Regierungskurs etwas entgegenzusetzen, und hat inzwischen jede Glaubwürdigkeit verloren. So sind die Leute, die derzeit auf die Straße gehen, über die Untätigkeit der Mitte-Links-Parteien mindestens ebenso empört wie über die Politik der rechten Regierung. Nachdem sich die Bürgerbewegung und die linken Parteien zunächst skeptisch gegenüberstanden, gab es Anfang des Monats vermehrt Versuche der Linksparteien, Anschluss an die Bewegung zu finden. So erklärte Piero Fassino, der Vorsitzende der Linksdemokraten, an der Bürgerbewegung seien »ganz, ganz viele unserer Parteimitglieder und Wähler« beteiligt.

Organisiert wird der Protest von Intellektuellen wie Gianni Vattimo, von Künstlern wie Dario Fo, Nanni Moretti, Andrea Camillieri und von Journalisten wie Paolo Flores D'Arcais, dem Herausgeber der intellektuellen Monatszeitschrift Micromega. (Jungle World, 12/02) »Vor Berlusconis Sieg hatten wir eine Verschlechterung der Sozialpolitik, der Justiz und des Medienpluralismus erwartet und deswegen kleinere Proteste geplant. Dann hat Berlusconi die Wahl gewonnen und regelt nun die Medien genauso wie seine Justizprobleme nach eigenem Gusto. Also sind wir aufgestanden«, sagte der Geologieprofessor Francesco Pardi aus Florenz, der die Proteste mitorganisiert.

Nun plant die Bürgerbewegung ein Referendum gegen eine Reihe von Gesetzen der Berlusconi-Regierung. Verhindert werden sollen dadurch die bereits verabschiedete Erschwerung von Rechtshilfeersuchen aus dem Ausland, die Strafmilderung für Bilanzfälschung, die vor allem Berlusconis Probleme mit der Justiz aus dem Weg geräumt haben, sowie die geplante Aushöhlung des Arbeitsrechts. Auch das Gesetz, das Berlusconis Interessenskonflikt als Unternehmer und Regierungschef in Personalunion kurzerhand für gelöst erklärte, soll per Volksabstimmung rückgängig gemacht werden.

Mitte März veröffentlichten mehrere Professoren aus Florenz ein Manifest, das in vielen Aspekten den Globalisierungskritikern folgt. Kritisiert wird der Krieg als Mittel der Politik, die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt sowie das wachsende Wohlstandsgefälle zwischen dem Norden und dem Süden.

Die globalisierungskritischen Sozialen Foren wiederum, die sich nach dem G 8-Gipfel in Genua im vergangenen Sommer in zahlreichen italienischen Städten gebildet haben, begrüßen die bürgerliche Protestbewegung. Erst Anfang März trafen sich Vertreter der Foren in Bologna zu ihrer ersten landesweiten Versammlung. Vittorio Agnoletto, Sprecher des Genua Social Forum, bringt ihr Anliegen auf den Punkt: »Es gehört zu unseren Zielen, die Bewegung immer mehr auszuweiten.« So waren in den letzten Monaten in vielen Städten Globalisierungskritiker an den regelmäßigen Demonstrationen beteiligt. An den so genannten Ringelreihen der Bürgerbewegung haben die Sozialen Foren zwar nicht teilgenommen, dafür aber immer wieder gegen das neue Einwanderungsgesetz demonstriert, das nach seinen Verfechtern als Bossi-Fini-Gesetz bezeichnet wird.

Zu der Großkundgebung in Rom hatten die No-Global gemeinsam mit den Basisgewerkschaften Cobas schon seit Anfang März mobilisiert. Erfolglos blieb Arbeitsminister Roberto Maroni, der das Attentat benutzt hatte, um die Sozialen Foren zu attackieren: »Teile der Linken unterstützen den Terrorismus.« Als Konsequenz forderte er ein Demonstrations- und Redeverbot für die Globalisierungskritiker.

Den Fortbestand der Mitte-Rechts-Regierung ernsthaft gefährden konnten die seit Januar regelmäßig stattfindenden Großkundgebungen bislang nicht. Was die Proteste auf der Straße nicht bewirken konnten, ist zumindest indirekt den Attentätern des Regierungsberaters Biagi gelungen. So musste Innenminister Claudio Scajola sich in der vergangenen Woche gegen heftige Rücktrittsforderungen wehren. Denn trotz wiederholter Anfragen hatte er es abgelehnt, dem Regierungsberater einen Personenschutz zu stellen, angeblich aus finanziellen Gründen. Nun ist er dem Vorwurf ausgesetzt, für den Mord an Biagi mitverantwortlich zu sein.